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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe
Autoren: Renate Welsh
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sagen. Ich glaube nicht einmal, dass ich es vergessen habe, ich hatte nur keine Zeit damals, auf ihn zu achten, solange er nichts anstellte, solange es keinen ungebührlichen Lärm gab, kein Fieber, keine zerrissenen Hosen, keinen Ärger in der Schule … Steffi und Rieke, die haben doch so viel Raum eingenommen, neben ihnen war fast kein Platz, da musste ich ständig irgendwas tun, der Bub lief so nebenher, nicht, dass er mir gleichgültig gewesen wäre, beileibe nicht, es hat ihm auch an nichts gefehlt und krank war er nur ganz selten. Ich bin eine schlechte Großmutter, ich finde es unausstehlich, wie sich die Buben aufführen, jetzt wirft der Kleine Pommes und der Große fängt sie mit offenem Mund auf. Bei einer anderen Gelegenheit könnte ich vielleicht darüber lachen. Eine gute Großmutter findet ihre Enkelkinder immer hinreißend, auch wenn sie das Tischtuch mit Ketchup bemalen. Es war schwer genug, Mutter zu sein, ich hatte das ja nicht gelernt, woher denn? Meine Mutter hatte genug damit zu tun, uns sechs irgendwie satt zu kriegen, ich kann mich nicht erinnern, dass sie je eines ihrer Kinder in den Arm genommen hätte, sobald sie abgestillt waren. Es genügt leider nicht, ein Kind zur Welt zu bringen, es genügt auch nicht, das Kind zu füttern, sauber und warm zu halten. Aber es muss genügen, oft und oft. Ein Schuft, der mehr gibt, als er hat, hat meine Großmutter oft gesagt. Hochstapler sind auch Zechpreller, hat sie hinzugefügt, und die können einen Kuhfladen mit Zuckerguss überschütten,bis er selber glaubt, er wär eine Torte. Immer wieder muss ich mich fragen, was geworden wäre, wenn die alte Dame nicht eines Tages beim Wäscheaufhängen zu mir gesagt hätte, Marie, gib endlich zu, dass du schwanger bist. Wir haben gerade ein Tischtuch gespannt, das damastene mit der breiten Klöppelspitze, auf das der Herr Oberamtsrat seine Zigarette fallen ließ, als er aus dem Lazarett zurückkam. Ich war schon im fünften Monat, und bis zu der Minute hatte ich mir selbst nicht zugegeben, was mit mir los war. Mit wem hätte ich auch sprechen sollen? Ich kannte ja niemanden in Wien, buchstäblich niemanden. Die Resi, die bei den Nachbarn in Dienst war, war schon heimgeschickt worden in ihr Dorf, sie war die Einzige, mit der ich manchmal am freien Nachmittag spazieren ging. Wenn man mit niemandem reden kann, hat man auch keine Wörter, um sich selbst etwas zu erzählen, und was man nicht sagt, das hängt irgendwie dazwischen, wo dazwischen weiß ich nicht, sollen sich die anderen die Köpfe zerbrechen, die haben es schließlich gelernt und werden auch bezahlt dafür. Ist mir doch egal, wenn nicht alles logisch ist, was ich mir denk. Außerdem bin ich gar nicht sicher, ob ihre Logik immer logisch ist, aber das sag ich natürlich nicht, sonst halten mich wirklich alle für blöd. Andreas hat wieder seinen besorgten Blick, ich finde nicht, dass es einem Sohn zusteht, seine Mutter anzuschauen, als wäre er ihr Lehrer oder ihr Vater. Am Tag nach seinem vierzehnten Geburtstag hat mich Andreas gefragt, ob ich seinen Vater geliebt habe. Ich hab zu lang gezögert mit der Antwort, da ging er hinauf in sein Zimmer und hat monatelang nicht mit mir gesprochen. Ich wollte, ich hätte ja gesagt, aber ich habe es nicht geschafft. Ich weiß bis heute nicht, ob das, was wir hatten, Liebe war. Genau genommen weiß ich überhaupt nicht, was Liebe ist. Ich weiß aber, dasses zu wenig gibt davon auf der Welt. Verkrochen haben wir uns ineinander, Fritz und ich, er war ja so verstört nach dem Tod seiner Mutter, und dann kam der Vater aus dem Lazarett ohne Beine und mit nur einem Arm, so streng und unnahbar bei Tag und diese furchtbaren Schreie in der Nacht, immer und immer wieder schrie er, und wir haben nichts verstanden außer: Ich war’s nicht. Immer wieder: Ich war’s nicht. Bis in mein Zimmer im Keller hat man ihn gehört, wenn auch nicht so laut wie oben, und dann ist Fritz gekommen und ist an meinem Bett gesessen und hat gezittert, es war ja bitter kalt in dem Winter 44 / 45, zum Schlafengehen hab ich die dicken Socken angezogen und die warme Jacke übers Nachthemd und die Strickmütze hab ich aufgesetzt. Schön muss ich ausgeschaut haben, aber er ist unter meine Decke gekrochen und ich hab ihn gewiegt. Da ist es dann halt passiert, und im März ist der Fritz freiwillig zur Flak gegangen, hat sich zwei Jahre älter gemacht, ich hab ihn nicht halten können. Warum er das getan hat, weiß ich bis heute nicht, er hat nur
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