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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe
Autoren: Renate Welsh
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Keuschheit.« Damit drehte sie sich wieder zu ihrem Freund, küsste ihn auf die linke Brustwarze und sah mich dabei triumphierend an. Trau dich, ein Wort zu sagen, las ich in ihrem Gesicht wie mit großen Buchstaben geschrieben. Edith hat einmal gesagt, die Fünfzigerjahre waren die große Zeit des 11. Gebots: Du sollst dich nicht erwischen lassen. In Gegenwart ihrer Mutter waren Stefanie und Friederike beinahe immer ausgesucht höflich zu mir, wenn sie sich einmal im Ton vergriffen haben, wurde Edith sehr scharf, das war mir dann peinlich. Wenn es nur nicht so viele Gründe gegeben hätte, ihr dankbar zu sein, vielleicht wären wir Freundinnen geworden, obwohl wir aus so verschiedenen Welten kamen. Manchmal, in der Zeit bevor Friedrich wieder da war, sind wir am Abend im Wohnzimmer gesessen, das war ja der einzige Raum, der gleich nach dem Krieg geheizt wurde, sie hat ihre Papiere geordnet, ich hab die Wäsche geflickt, Socken gestopft oder etwas für Andreas gestrickt. Das kann sich auch keiner mehr vorstellen, wie wir alte Pullover aufgetrennt und die gekrinkelte Wolle über ein Schneidbrett gespannt und angespritzt haben, damit sie wieder glatt wurde.Wenn sie trocken war, hab ich die Wolle über eine Sessellehne gehängt und aufzuwickeln begonnen, da ist Edith oft aufgestanden, hat die Wolle zwischen beiden Händen gehalten und ich hab sie zu einem Knäuel gewickelt, und dabei haben wir geredet, manchmal auch gesungen, und wenn wir fertig waren, hat Edith Tee aufgegossen und meistens einen Schluck von dem alten Cognac im Keller hineingetan. Manchmal war der Schluck gar nicht so klein. Edith hat mir sogar Tanzen beigebracht, Foxtrott, Walzer, Polka und Jitterbug. Das war dann natürlich vorbei, als ihr Mann aus der Gefangenschaft zurückkam, im Mai 1951, Edith hat behauptet, es war der 23., aber da hat sie sich geirrt, der 25. war es. Ein halbes Jahr lang durfte im Haus nur geflüstert werden, dann kamen die Jahre, wo er viel unterwegs war, aber man wusste nie, ob er einen seiner Wutanfälle bekommen würde, wenn er heimkam. Wenn ich ihm zum Beispiel eine Tasse Tee ins Arbeitszimmer brachte, konnte es sein, dass er sich freundlich bedankte, aber auch, dass er über die lästige Störung zu brüllen begann. Nach seinem Tod hatten wir es richtig fein, Gott verzeih mir, aber so war es. Die Mädchen waren aus dem Haus, wir haben es uns richtig gemütlich gemacht, inzwischen gab es ja auch Zentralheizung und die Hausarbeit war ein Kinderspiel gegen früher. Die Sonntage im Sommer, wenn wir im Garten gefrühstückt haben, einmal bist du aufgestanden, einmal ich, da eine welke Geranienblüte abknipsen, dort eine Rose schneiden. Die Blumenschere ist immer griffbereit auf dem kleinen runden Tisch gelegen. Eberhard hat einmal erklärt, als alte Emanze muss Edith ja eine Schere bei der Hand haben, Edith hat irgendwas gebrummt, und seine Hände sind ganz automatisch an seinen Schritt gefahren. Was haben wir gelacht! Gute Zeiten haben wir gehabt. Der Nachmittag im Jänner oderFebruar, als sie mit allen Enkelkindern eine Schneeburg baute und zwei Schneemänner davorstellte. Plötzlich kam die Sonne heraus, auf allen Bäumen, auf den Mützen der Kinder und in Ediths verrutschtem Haarknoten glitzerten winzige Eiskügelchen. Keine Ahnung, in welchem Jahr das war. Die Kinder waren klein, und Andreas hat noch studiert, ich sehe ihn am Fenster seines Zimmers im zweiten Stock stehen. Heruntergekommen ist er nicht, auch nicht, als Anna hinauflief und ihm sagte, dass es in der Schneeburg Tee und Krapfen gibt. Sie war gekränkt, das weiß ich. Die Kinder sind ihm immer nachgelaufen, obwohl er sie meist weggescheucht hat. Er habe zu lernen, hat er gesagt. Ein einziges Mal hab ich gesehen, wie er Raffael und Thomas an seinen ausgestreckten Armen geschwenkt hat wie im Ringelspiel, und Anna saß auf seiner Schulter und hat gejauchzt. Ich bin schnell vom Fenster weggegangen, ich hätte ja doch alles kaputt gemacht. Ob er mit seinen Buben auch so spielt? Es tut weh, dass er so ernst ist, so gar keine Leichtigkeit hat. Woher auch. Wenn ich bei ihnen zum Essen eingeladen bin, zieht er sich gleich nach dem Kaffee in sein Arbeitszimmer zurück. Wir sind beide so befangen voreinander. Manchmal glaube ich fast, er nimmt es mir übel, dass es ihn gibt. Er hat doch jetzt ein schönes Leben, eine gute Stellung, eine liebe Frau, gesunde Kinder, trotzdem weiß ich nicht, ob er gern lebt. Ich liebe ihn, aber zeigen kann ich es ihm nicht. Zum Geburtstag
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