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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe
Autoren: Renate Welsh
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verstehe. Früher hab ich manchmal gedacht, wenn Fritz gelebt hätte, wäre alles anders gekommen. Wäre es das? Fritz hätte die Schule fertig gemacht, hätte studiert, hätte Karriere gemacht, lächerlich zu glauben, dass er mich geheiratet hätte! Als Minderjähriger hätte er die Erlaubnis des Herrn Oberamtsrats gebraucht und die hätte er nie bekommen, sechs Jahre hätten wir warten müssen, und ob ich dann noch ja gesagt hätte? Und wenn doch, wie lange hätte es gedauert, bis ich es bereut hätte? Als junger Mann hätte er keine Freude mit mir gehabt. Jetzt vielleicht. Sechsundsiebzig wäre Fritz heute, unvorstellbar. Hätte er einen Bauch bekommen? Wahrscheinlich, wenn er weiter so gern Buchteln und Powidltatschgerln und Kaiserschmarrn gegessen hätte. Einen Bauch und eine Stirnglatze. Ich müsste ihm die Zehennägel schneiden. Gott, wie gern ich das täte. Heute würde der Altersunterschied nichts mehr ausmachen, ich hab mich ja ganz gut gehalten, muss ich schon selbst sagen. Ich könnte meine kalten Füße an seinem warmen Bauch wärmen. Wie er sich an mich gekuschelt hat damals, wie seine Rippen sich in mein Fleisch gebohrt haben. Rainer hat die Augen seines Großvaters. An die Augen kann ich mich erinnern, alles andere ist blass. Verschwommen. Was schaust du denn so? Er rutscht auf seinem Sessel hin und her, jetzt flüstert er seiner Mutter etwas ins Ohr. Komm doch her, es wäre schön, dich auf dem Schoß zu halten. Fünf Männlein sind in den Wald gegangen, das war das liebste Fingerspiel deines Vaters. Er kann sich bestimmt nicht erinnern, aber beim kleinen Wuziwuzi,der sie alle auffrisst, hat er schallend gelacht wie sonst nie. Moment, das ist aus einem anderen Vers. Wie fängt der an? Hab ja doch ein Nudelsieb im Kopf. Edith hat immer wieder behauptet, ich wäre gar nicht dumm, ich ließe mich nur viel zu schnell kleinmachen, aber wenn sie sich über mich ärgerte, sagte sie auch, dass ich das ja doch nicht verstehe. Früher hat’s das nicht gegeben, jedenfalls ist es mir nicht aufgefallen, aber jetzt seh ich so oft zwei alte Menschen Hand in Hand auf der Straße gehen. Ich muss jedes Mal aufpassen, dass ich ihnen nicht nachstarre. Ist doch schön, wenn zwei nach zig Jahren immer noch Händchen halten. Gut, vielleicht halten sie sich nur fest, damit sie nicht stolpern, aber wenn schon. Sie spüren ja doch einer die Hand des anderen.
    Der Pfarrer hat mich geärgert, Edith. Der hat dich zu einem Menschen ohne Fleisch und Blut gemacht in seiner Grabrede, eine total langweilige Heilige. Das hast du nicht verdient. Genauso wenig wie du verdient hast, dass deine Töchter in deinen Sachen herumwühlen und spitze Bemerkungen über die Unordnung in deiner Kommode und über deine schäbige Unterwäsche machen. Die ausgeleierten Gummis an den BHs und in den Unterhosen. Hauptsache sauber, geflickt ist keine Schande, löchrig schon. Ich glaube, das war auch ein Spruch von meiner Großmutter. So lang hab ich nicht an sie gedacht, und jetzt fällt sie mir beinahe jeden Tag ein mit ihren Sprüchen, mit ihren faltigen Händen und den dicken Knöcheln, mit ihrem dünnen aufgesteckten Zopf und dem Mariazeller Rosenkranz am Nagel mit dem Schutzengelbild über ihrem Bett. Auf einer wackeligen Brücke ohne Geländer über einem reißenden Fluss legt ein Engel mit riesigen Flügeln zwei Kindern seine Hände auf die Schultern. Oma hat oft gesagt, wenn sie einmal nicht mehr ist, dann soll das
    Bild mir gehören und ich soll es meinen Kindern übers Bett hängen, damit sie nicht ungeschützt sind in der Welt. Im April 45 ist sie ganz friedlich eingeschlafen, im Juli erst hab ich den Brief bekommen, da war sie längst begraben und ich hab weiß Gott andere Sorgen gehabt, als mich nach dem Bild zu erkundigen, und bei meinem ersten und einzigen Besuch im Spätsommer hat keiner wissen wollen, wo es geblieben ist. Im Vorhaus sind noch ihre Filzpatschen gestanden, gelb und braun kariert, mit heruntergetretenen Fersen. Ich weiß, dass es ihre waren, weil vorn im Linken ein rundes Loch geschnitten war, wo sie das Überbein hatte. Wenn die Oma mir die Haare gekämmt und die Zöpfe geflochten hat, hat sie meinen Kopf gegen ihren Bauch gedrückt. Ganz weich war der. Mein Mirzerl, hat sie mich genannt. Nicht einmal zu ihrem Grab bin ich gegangen, weil alles so furchtbar war.
    Nein, an den Besuch will ich nicht denken, nicht daran, was sie mich alles geheißen haben, nicht an die Rückfahrt im Zug. Die Holzbänke in der dritten Klasse
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