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Grieche sucht Griechin - Grotesken

Grieche sucht Griechin - Grotesken

Titel: Grieche sucht Griechin - Grotesken
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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zerschlissenen, feuchten Konfirmandenanzug.
    »Gib mir den Arm«, forderte ihn Chloé auf.
    Der Unterbuchhalter war verlegen. Er wußte nicht recht, wie man das machte. Er wagte kaum, das Wesen anzusehen, das an seiner Seite durch den Nebel trippelte, um die schwarzen Haare ein silberblaues Tuch geschlagen. Er genierte sich ein wenig.
    Es war das erste Mal, daß er mit einem Mädchen durch die Stadt ging, und so war er eigentlich froh um den Nebel. Von einer Kirche her schlug es halb elf. Sie schritten durch leere Vorstadtstraßen, deren Häuser sich im nassen Asphalt spiegel-ten. Ihre Schritte hallten an den Wänden wider. Es war, als gingen sie durch Kellergewölbe. Kein Mensch war zu erblik-ken. Ein halbverhungerter Hund trottete ihnen aus dem Dunkel entgegen, ein verdreckter Spaniel, schwarzweiß, triefend vor Nässe, mit hängenden Ohren und hängender Zunge. Undeutlich waren die roten Straßenlichter zu sehen. Dann rollte sinnlos hupend ein Autobus vorüber, Richtung Nordbahnhof offenbar.
    Archilochos drängte sich in die weichen Haare ihres Mantels, von der leeren Straße, vom Sonntag, vom Wetter überwältigt, Platz unter ihrem kleinen roten Schirm zu finden. Sie schritten im Takt dahin, fast ein richtiges Liebespaar. Irgendwo sang blechern die Heilsarmee im Nebel, und manchmal drang aus den Häusern das Sonntagmorgenkonzert der Télédiffusion, irgendeine Symphonie, Beethoven oder Schubert, mischte sich mit dem Tuten der im Nebel verirrten Automobile. Sie kamen gegen den Strom hinunter, wie sie ahnten, durch gleichförmige 21

    Straßen, nun stückweise zu sehen, als es heller wurde, sich immer noch in Grau auflösend. Dann ging es einem unendli-chen Boulevard entlang mit immer gleichen langweiligen Häuserfronten, wie nun schon deutlich zu erraten war, mit Stadtvillen längst verkrachter Bankiers und vergilbter Kokotten mit dorischen und korinthischen Säulen vor den Türen, mit steifen Baikonen und hohen Fenstern im ersten Stock, meistens erleuchtet, meist beschädigt, schemenhaft, tropfend.
    Chloé begann zu erzählen. Die Geschichte ihrer Jugend, wundersam wie sie selber. Sie erzählte zögernd, oft verlegen.
    Doch dem Unterbuchhalter kam alles Unglaubwürdige natürlich vor, war es doch ein Märchen, was er erlebte.
    Sie war eine Waise (nach ihrer Erzählung), ein Kind griechischer Leute, aus Kreta eingewandert, die in den bösen Wintern erfroren. In einer Baracke. Dann war die große Verlassenheit gekommen. Sie wuchs im Elendsviertel auf, verdreckt, zer-lumpt, wie der schwarzweiße Spaniel eben, stahl Obst und plünderte Opferstöcke. Die Polizei verfolgte sie, Zuhälter stellten ihr nach. Sie schlief unter Brücken zwischen Vaganten und in leeren Fässern, scheu und mißtrauisch wie ein Tier.
    Dann wurde sie von einem archäologischen Ehepaar aufgele-sen, buchstäblich, bei einem Abendspaziergang, und in eine Schule gesteckt, zu Nonnen, und lebte nun bei ihren Wohltä-
    tern als Dienstmädchen, anständig gekleidet, anständig genährt, eine rührende Geschichte, alles in allem.
    »Ein archäologisches Ehepaar?« wunderte sich Arnolph. Er hatte dergleichen noch nie vernommen.
    Ein Ehepaar, das Archäologie studiert, verdeutlichte Chloé Saloniki, und in Griechenland Ausgrabungen gemacht habe.
    »Sie entdeckten dort einen Tempel mit kostbaren Standbildern, im Moos versunken, und goldenen Säulen«, sagte sie.
    Wie denn das Ehepaar heiße?
    Chloé zögerte. Sie schien nach einem Namen zu suchen.
    »Gilbert und Elizabeth Weeman.«

    22

    »Die berühmten Weemans?«
    (Eben war im ›Match‹ ein Artikel mit farbigen Bildern erschienen.)
    »Die.«
    Er werde sie in seine sittliche Weltordnung einbauen, sagte Arnolph. Als Nummer neun und zehn, doch vielleicht auch als Nummer sechs und sieben, indem Maître Dutour und der Rector magnificus Nummer neun und zehn einnehmen könnten, das sei ja immer noch eine Ehre.
    »Du hast eine sittliche Weltordnung?« fragte Chloé verwundert. »Was ist denn das?«
    Man müsse einen Halt haben im Leben, sittliche Vorbilder, sagte Archilochos, auch er habe es nicht leicht, wenn er auch nicht zwischen Mördern und Vagabunden aufgewachsen sei wie sie, sondern mit Bruder Bibi in einem Waisenhaus; und er begann mit der Schilderung seines moralischen Weltgebäudes.

    4

    Das Wetter hatte sich verändert, unmerklich zuerst für die beiden. Der Regen hatte aufgehört, der Nebel sich gelockert. Er war zu gespenstischen Figuren geworden, zu langgestreckten Drachen, zu schwerfälligen
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