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Grieche sucht Griechin - Grotesken

Grieche sucht Griechin - Grotesken

Titel: Grieche sucht Griechin - Grotesken
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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der vorletzten Christen entschieden ab.)
    Nummer sechs der Weltordnung war Maître Dutour.
    Nummer sieben Hercule Wagner, der Rector magnificus der Universität.
    Dutour hatte einen längst geköpften Lustmörder verteidigt, einen Hilfsprediger der Altneupresbyteraner (nur das Fleisch vergewaltigte den Geist des Hilfspredigers, die Seele blieb außerhalb, unbesudelt, gerettet); der Rector magnificus dagegen hatte das Studentenheim der vorletzten Christen besucht 13

    und sich fünf Minuten mit Nummer zwei der Weltordnung (Bischof) unterhalten.
    Nummer acht war Bibi Archilochos, sein Bruder, ein guter Mensch, wie Arnolph betonte, arbeitslos, was Georgette verwunderte, war doch dank Petit-Paysan das Land beschäftigt.
    Archilochos wohnte in einer Mansarde nicht weit von ›Chez Auguste‹, wie die kleine Wirtschaft des Champions hieß, und brauchte über eine Stunde, bis er seinen Arbeitsplatz im wei-
    ßen, zwanzigstöckigen, von Corbusier konstruierten Verwal-tungsbau der Petit-Paysan Maschinenfabrik AG erreichte. Was die Mansarde betrifft: Fünf Stockwerke hoch, übelriechender Korridor, klein, schräg, unbestimmte Tapete, ein Stuhl, ein Tisch, ein Bett, eine Bibel, hinter einem Vorhang sein Sonn-tagskleid. An der Wand: erstens Staatspräsident, zweitens Bischof, drittens Petit-Paysan, viertens Reproduktion eines Bildes von Passap (viereckige Dreiecke) und so weiter bis zu Bibi hinunter (Familienbild mit Kinderchen). Aussicht: Blick auf eine schmutzige Fassade, zwei Meter vom Fenster entfernt, Abortwand, abenteuerliche Flecke, weiß, gelb und grün, in regelmäßigen Reihen offene stinkende Fensterchen, die Wand nur manchmal im Hochsommer gegen Mittag von oben verklärt, dazu der Lärm der Wasserspülungen. Was den Arbeitsplatz betrifft: mit fünfzig anderen Buchhaltern in einem gro-
    ßen, mit Glas unterteilten Raum, labyrinthartig, nur Zickzack-gänge ermöglichend, im siebenten Stock, Abteilung Geburtszangen, Ärmelschoner, Bleistift hinter dem Ohr, grauer Arbeitskittel; Mittagessen in der Kantine, wo er unglücklich war, weil weder der Staatspräsident noch der Bischof dort hingen, nur Petit-Paysan (Nummer drei). Archilochos war nicht ein eigentlicher Buchhalter, nur ein Unterbuchhalter. Vielleicht noch genauer: Der Unterbuchhalter eines Unterbuchhalters.
    Kurz, einer der untersten Unterbuchhalter, soweit man von einem untersten sprechen konnte: die Zahl der Buch- und Unterbuchhalter in der Petit-Paysan AG war praktisch unend-14

    lich; doch wurde er auch in dieser bescheidenen, beinahe letzten Stellung weit besser bezahlt, als dies wiederum die Mansarde zu verkünden schien. Der Grund, der ihn in die dunkle, von Aborten umstellte Höhle bannte, war Bibi.

    2

    Nummer acht (Bruder) lernte Madame Bieler ebenfalls kennen.
    An einem Sonntag. Arnolph hatte Bibi Archilochos zum Mittagessen eingeladen. ›Chez Auguste‹.
    Bibi kam mit Weib, zwei Mätressen und den sieben Kinderchen, von denen die ältesten, Theophil und Gottlieb, beinahe erwachsen waren. Magda-Maria, dreizehn Jahre, brachte einen Verehrer mit. Bibi erwies sich als ein gottvergessener Säufer, die Frau war vom ›Onkel‹ begleitet, wie man ihn nannte, einem ausgedienten Kapitän, nicht umzubringen. Es war ein Mords-spektakel, der selbst den Radsportfreunden zuviel wurde.
    Theophil prahlte von seinem Zuchthausaufenthalt, Gottlieb von einem Bankeinbruch, Matthäus und Sebastian, zwölf und neun Jahre, stachen mit Messern, und die beiden Jüngsten, Zwillinge, sechsjährig, Jean-Christoph und Jean-Daniel, rauften sich um eine Absinthflasche.
    »Welche Menschen!« rief Georgette entsetzt, als sich das Teufelspack verzogen hatte.
    »Es sind eben Kinder«, begütigte sie Archilochos und beglich die Rechnung (einen halben Monatslohn).
    »Hören Sie«, entrüstete sich Madame Bieler. »Ihr Bruder scheint eine Räuberbande zu unterhalten. Und dem geben Sie noch Geld? Fast alles, was Sie verdienen?«
    Archilochos’ Glaube war jedoch nicht zu erschüttern. »Man muß den Kern sehen, Madame Bieler«, sagte er, »und der Kern ist gut. Bei jedem Menschen. Der Schein trügt. Mein Bruder, 15

    seine Frau und seine Kinderchen sind vornehme Wesen, nur diesem Leben vielleicht nicht so ohne weiteres gewachsen.«

    Jetzt aber, wieder an einem Sonntag, doch schon um halb zehn, betrat er aus einem anderen Grunde die kleine Wirtschaft, eine rote Rose im Knopfloch und von Georgette mit Ungeduld erwartet. An allem waren eigentlich nur der endlose Regen, der Nebel, die Kälte,
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