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0679 - Der Schrecken von Botany Bay

0679 - Der Schrecken von Botany Bay

Titel: 0679 - Der Schrecken von Botany Bay
Autoren: Claudia Kern
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An einem Ort, der keiner war, weil er überall im Universum und doch nirgendwo existierte, verschoben sich die unsichtbaren Linien, aus denen die Zeit besteht. Wahrscheinlichkeiten wurden neu kalkuliert, Ereignisse ausgelöscht und erschaffen. Wie Schneeflocken, die von einem zufälligen Wind auf eine Bergspitze geweht werden, kamen einzelne Personen und Taten zusammen oder trieben auseinander. Der Zeitstrom versuchte sich selbst zu korrigieren, aber die Veränderungen griffen um sich, nahmen immer größere Ausmaße an, bis sie zu einer unaufhaltsamen Lawine geworden waren, die nur noch auf einen letzten Windstoß wartete, der sie unaufhaltsam nach unten rasen ließ.
    Wäre die Menschheit nicht selbst Teil des Stroms gewesen, so hätte sie in diesem Moment bemerkt, wie die Welt sich rasant zu verändern begann: In Sydney, Australien, bereitete Mrs. Ellen Dumphries das Frühstück für sich, ihren Mann Hugh und ihre drei Kinder zu. Als der Sekundenzeiger der Küchenuhr auf acht Uhr sprang, verschwanden die Kinder, der Mann und das Haus, in dem sie lebten, spurlos. Ellen Dumphries, die eben noch die Spiegeleier in der Pfanne gewendet hatte, hielt plötzlich einen Besen in der Hand und kehrte den Hof ihres kleinen Bauernhofs in Neuseeland. Ihr Mann Malcolm war noch auf dem Feld, die fünf Kinder vermutlich gerade auf dem Weg von der Schule nach Hause. Ellen Dumphries bemerkte keine Veränderung.
    In der Grafschaft Kent in England stieg die Bevölkerung sprunghaft an. Aus malerischen Farmen und Dörfern wurden qualmende, rußgeschwärzte Ruinen, zwischen denen wettergegerbte Männer und Frauen mit verbissenen Gesichtern nach Waffen und Nahrung suchten.
    In Belfast, Nordirland, verschwanden die Wachtürme, die seit Jahrzehnten vom Bürgerkrieg zwischen Protestanten und Katholiken zeugten. Die Stadt wuchs, wurde zur blühenden Metropole.
    Und Australien wurde leer.
    Die Geschichte schrieb sich neu.
    ***
    Australien, 1794:
    »Habt ihr die Gerüchte gehört?«, fragte David Buchanan missmutig. »Angeblich will das Rum Corps schon wieder die Rationen kürzen. Vier Pfund Fleisch soll es nur noch pro Woche geben und einen viertel Liter Essig. Davon kann doch kein Mensch leben.«
    Sean MacDonaghan nickte. »Es heißt, sie wollen auch die Mehlzuteilung halbieren. Sie selber schlagen sich die Bäuche voll, aber uns lassen sie verhungern. Unter Arthur Phillip waren die Dinge besser. Zumindest haben alle gehungert, wenn es nichts gab. Nicht nur wir. Wenn ihr mich fragt, wird es Zeit, dass wieder ein Gouverneur kommt.«
    »Nein, es wird Zeit, von hier zu verschwinden«, widersprach Edward Cooper und stand auf. Die schweren Ketten an seinen Fußknöcheln klirrten, aber niemand reagierte auf das Geräusch, denn drei der vier Männer, die in der kleinen Holzhütte auf roh gezimmerten Schemeln saßen und Tee tranken, hörten es jeden Tag vierundzwanzig Stunden lang, wenn sie sich bewegten.
    Der vierte Mann, der einzige ohne Ketten, grinste zahnlos. »Willst du immer noch nach China, Eddie?«, nuschelte er. »Das ist doch nur eine Legende.«
    Cooper führ herum. Er war daran gewöhnt, von Ian Murphy belächelt zu werden, aber an manchen Tagen fiel es schwer, dem Seemann dafür nicht an den Kragen zu gehen.
    »Woher willst du das wissen? Ich habe heute mit einem Iren gesprochen, der mir von einem seiner Kumpel erzählt hat. Der ist vor vier Jahren nach China aufgebrochen. Niemand hat ihn je wieder gesehen.«
    Murphy schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Die verdammten Wilden haben ihn aufgeschlitzt, als er im Busch war. Du weißt doch, wie die sind.«
    »Ich bin noch nicht fertig«, entgegnete Cooper scharf. »Vor einem Jahr bekommt dieser Ire einen Brief von seinem Kumpel. Darin steht, wie er durch ganz Australien gewandert ist, bis er zu einer goldenen Brücke kam, die ihn nach China brachte. Seitdem lebt er dort und wird von allen geachtet. Er hat Mätressen und Gold und Land und…«
    »Hat der Ire dir den Brief gezeigt?«, mischte sich Buchanan in die Diskussion ein.
    »Nein, das nicht, aber er hat geschworen, dass die Geschichte stimmt.«
    MacDonaghan schnaubte. »Iren, die brechen jeden Schwur für eine gute Geschichte. Und ich muss es wissen. Schließlich ist meine Mutter Irin.«
    Die vier Männer lachten. Cooper setzte sich wieder auf seinen Schemel und betrachtete die Teeblätter, die sich nach dem fünften Aufguss in seiner Tasse aufzulösen begannen.
    »Lacht ruhig«, sagte er dann, »aber ich werde nach China gehen. Ein
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