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Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)

Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)

Titel: Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
Autoren: Ruth Berger
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Schicksal traf den Nerv der Zeit. In diesem Schicksal kamen nämlich Moral und Wirklichkeit, göttliche Gerechtigkeit und Menschenliebe, die neue Vergötterung weiblicher Tugend und die Folgen des Ideals im Leben der einfachen Leute so verquer zusammen, dass es knirschte, sich verhakte und niemand mehr wusste, wie dieser Knoten aus Widersprüchen wieder aufzubekommen war. Und deshalb gab es auch eigentlich keine Lösung für die Preisfrage, für deren beste Beantwortung 1780 ein Mannheimer Jurist hundert Gulden aussetzte: Wie man dem Kindsmord vorbeugen könne, ohne zugleich die Unzucht zu befördern?
    Man konnte es nicht.
    Auch Georg schrieb aus Emmendingen eine Antwort auf die Preisfrage, auch er hatte nicht vergessen, wie damals der Klient seines Bruders, der Scharfrichterssohn Hoffmann, der bedauernswerten Person den Kopf mit einem Hieb vom Leib getrennt und der Leib noch gezuckt hatte danach, alles nach Recht und Gesetz. Es war aber eigentlich auch ihm klar: Jede wirklich erfolgversprechende Maßnahme gegen den Kindsmord − er schlug staatliche Alimentierung lediger Mütter und ihrer Kinder vor und Abkehr von der Ächtung gefallener Frauen −, jede solche Maßnahme würde zugleich die Unzucht vermehren. Man muss sich nur umsehen im Frankfurt der Jahrtausendwende, wo die Zahl der getöteten Neugeborenen lang nicht mehr so hoch ist wie zu Susanns Zeiten – wo aber zugleich die jungen Leute sich geradezu schämen, wenn sie mit achtzehn Jahren noch nie Unzucht getrieben haben. Nur, dass dieser Zeitvertreib natürlich heute nicht mehr Unzucht heißt.
    Damals, als das Thema so hochkochte zwischen 1770 und 1780, da war noch niemand bereit, solche haarsträubenden Folgen hinzunehmen. Weder die christlichen Moralisten, die für die allerschärfste Bestrafung des früher ignorierten Kindsmords erst gesorgt hatten, noch die jungen Wilden in Wolfgangs Freundeskreis, die sich in ihrem Sturm und Drang vom schlimmen Schicksal der ungewollt schwangeren Mütter aufgewühlt zeigten.
    Es war also eine Sackgasse. Man konnte nur entweder rechts abbiegen, in eine schamlose, unzüchtige, unordentliche Zukunft, in der das Kinderkriegen nicht mehr an die Ehe gebunden sein würde. Oder nach links, zurück ins Mittelalter mit seinem germanischen Gewohnheitsrecht der Kindstötung zur Geburtenkontrolle. Geradeaus gab es nichts. Da blieb man lieber erst mal stehen, wo man war.
    Für die Dauer einer ganzen Generation blieb man stehen und diskutierte. Und dann einigte man sich auf jene Maßnahme, die man unter dem Deckmäntelchen der moralischen Strenge durchmogeln konnte: die Abschaffung der Todesstrafe für das Delikt. Insgeheim dachte man, man erträgt es einfach nicht mehr, die Grausamkeit. Laut sagte man: So eine Hinrichtung, die ist ja so schnell vorüber, die ist ja fast nichts im Vergleich mit dem, was ein gefallenes Mädchen zu erleiden hat, wenn es seine Schwangerschaft zugibt! Da müssen andere Strafen her, die die Qual etwas ausdehnen. So ungefähr dreißig Jahre nach der Frankfurter Hinrichtung begann man in einigen deutschsprachigen Ländern, dieser Empfehlung tatsächlich zu folgen. In Österreich und Bayern, den ersten Ländern, die das wagten, bedeuteten Gerechtigkeit und Recht von nun ab nicht mehr unbedingt, dass Blut mit Blut gesühnt werden müsse: Zwanzig Jahre Haft taten es bei Kindsmord jetzt auch.
    (Man hatte ohnehin, was die Vergeltung von Blut mit Blut betrifft, die Bibel immer ziemlich missverstanden. Der Bonum hätte das, hätte man ihn gefragt, damals schon den Frankfurter Ratsherren und Syndikern sagen können, die von göttlichem Gesetz faselten in ihrem Urteil und nicht wussten, wovon sie sprachen. Es ging doch bloß um angemessene Schadenersatz-Zahlungen an dieser Bibelstelle «Auge um Auge, Zahn um Zahn». Doch nicht etwa, Gott bewahre, darum, dass dem Täter zur Strafe auch ein Auge ausgerissen werden sollte!)
    Nachdem dann einmal die Türe aufgestoßen war hinaus aus dem alten Recht, da konnte man auch weitergehen. Weil zwanzig Jahre Kerkerhaft noch immer ziemlich grausam erschienen − man überlebte das in den damaligen Kerkern nicht immer − und man die armen Mädchen, wenn man ehrlich war, ja irgendwie verstehen konnte, da wurden es nach und nach immer weniger und weniger Jahre. Es ließ sich ja auch rechtfertigen, nicht wahr. Unter anderem mit der Begründung, dass jede Mutter im Moment der Geburt durch die Schmerzen in einen Wahn verfalle und also gar nicht zurechnungsfähig sei. (Man hatte den
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