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Grenzen setzen – Grenzen achten

Titel: Grenzen setzen – Grenzen achten
Autoren: Anselm Grün/Ramona Robben
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Aber es ist immer Gottes Werk und Gottes Gnade, die gerade dann wirkt, wenn der Mensch seine Grenze und seine Ohnmacht akzeptiert.
Eine indianische Legende
    Es gibt eine schöne indianische Legende von zwei alten Frauen, die ein Nomadenstamm während eines bitterkalten Winters auf der Wanderung als unnütze Esser zurücklässt, damit sie in der Einsamkeit sterben. Die beiden Frauen sind tief verletzt. Doch dann sagt die eine: „Wir beklagen uns, sind nie zufrieden. Wir reden davon, dass es nichts zu essen gibt, und davon, wie gut es früher war, obwohl es in Wirklichkeit nicht besser war. Wir finden, dass wir schon so schrecklich alt sind. Und jetzt, nachdem wir so viele Jahre damit verbracht haben, die jüngeren Leute davon zu überzeugen, dass wir hilflos sind, glauben sie, dass wir in dieser Welt nicht mehr von Nutzen sind.“ Die beiden Frauen geben nicht auf. Sie kämpfen um ihr Dasein. Sie finden den Mut und den Willen, zu überleben. Und nun werden sie auf einmal zu Retterinnen für ihren Stamm. Sie finden genügend Fische und erlegen genügend Kaninchen, um zu überleben. Sie legen einen großen Vorrat an getrockneten Fischen an. Ihr Stamm aber, der sie ausgesetzt hat, gerät in der Zwischenzeit in großeNot. In seiner Verzweiflung und von schlechtem Gewissen geplagt, sendet der Häuptling Späher aus, um nach den beiden alten Frauen zu suchen. Sie finden sie schließlich wohlauf. Zunächst verhalten sich die Frauen abweisend. Sie sind zu verletzt. Sie möchten erst prüfen, wie der Stamm zu ihnen steht. Die Späher verbürgen sich mit ihrem Leben für die beiden alten Frauen. Daraufhin sind die Alten bereit, dem Stamm Nahrung zu liefern. Aber der Stamm soll in einiger Entfernung von ihnen wohnen. Erst nach und nach erlauben sie den Besuch der Leute. Und auf einmal entsteht eine neue Gemeinschaft. Die beiden Alten haben nicht nur mit ihren Vorräten dem Stamm das Leben gerettet, sondern sie haben durch ihren Willen zum Durchhalten und durch ihre Weisheit dem Stamm einen neuen Umgang mit alten und schwachen Menschen ermöglicht. Die beiden alten Frauen, die zuvor wehleidig über die Beschwerden ihres Lebens jammerten, haben ungeahnte Kräfte und Fähigkeiten entwickelt. Das ist ein schönes Bild für viele alte Menschen, die im Alter manche Wehleidigkeit ablegen und Neues in sich entdecken.
Neue Qualitäten
    Mein ehemaliger Novizenmeister, Pater Augustin, der für mich ein Stück Altersweisheit verkörperte, sagte mir einmal, er hätte nie gedacht, dass Altwerden so schwer sei. Ich hatte von außen immer den Eindruck, dass ihm das Altwerden gelungen sei. Aber ihn hat es offensichtlich auch viel Kraft gekostet, sich zurückzunehmen und seine zunehmenden Altersbeschwerden anzunehmen und geduldig zu ertragen. Die Grenze des Alters anzunehmen heißt immer auch, sie zu erleiden. Als Organist litt Pater Augustin darunter, dass seine Finger jetzt nicht mehr so beweglich waren, dass er nicht mehr so spielen konnte, wie eres gerne gewollt hätte. Doch nach dem Mittagessen – wenn er die Kirche leer glaubte – setzte er sich an die Orgel und improvisierte auf eine Weise, dass sich immer wieder Menschen einfanden, die sich von seiner Musik verzaubern ließen. Seine Musik strahlte Stille, Langsamkeit, Weisheit, Sehnsucht und Liebe aus. Diese neue Qualität seines Orgelspiels wurde möglich, als er seine Grenzen akzeptiert hatte. Sein Spiel wurde für manch einen stillen Zuhörer zum Segen.

    Der Staat hat eine klare Pensionsgrenze festgesetzt. Mit 65 Jahren muss man seine Arbeit beenden. Manche sind froh, nun endlich pensioniert zu sein und Zeit für sich zu haben. Aber nicht alle können gut damit umgehen. Einige fallen in einen Pensionierungsschock. Sie sind jetzt nicht mehr wichtig, haben nichts mehr zu sagen. Ein Universitätsprofessor erzählte mir, wie schwer es für ihn war, keine Sekretärin mehr zu haben, die ihm seine Reden schreiben konnte. Andere fallen entweder in eine Altersdepression oder fliehen vor sich selbst in hektische Betriebsamkeit. Im Kloster kennen wir keine Pensionierungsgrenze. Da können die älteren Mitbrüder so lange arbeiten, wie sie möchten. Das hat Vorteile, birgt aber auch Gefahren. Manchen gelingt es dann nicht, ihre Aufgabe loszulassen. Ob innerhalb oder außerhalb des Klosters: Es ist eine Kunst, mit der Altersgrenze gut, das heißt gelassen und achtsam umzugehen. Heute, da die Menschen immer älter werden, wäre es für viele gut, gerade diese Kunst zu lernen.

19. Die Grenze des
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