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Grenzen setzen – Grenzen achten

Titel: Grenzen setzen – Grenzen achten
Autoren: Anselm Grün/Ramona Robben
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Überforderung. Das kann viele Gründe haben. Ein immer wieder anzutreffender Grund: Überforderte und ausgebrannte Menschen haben ihre Grenze nicht beachtet. Sie leben über ihre Verhältnisse und merken irgendwann, dass sie ihr inneres Maß verloren haben. Ohne das rechte Maß aber gelingt das Leben nicht.
    Es gibt aber auch Menschen, für die etwas anderes zutrifft: Vor lauter Sich-Abgrenzen entdecken sie ihre Kraft gar nicht und sie wachsen nie über ihre eigene Grenze hinaus. Im Gegenteil: Sie bleiben in ihrer Enge stecken. Von solchen Menschen sagen wir, sie seien sehr begrenzt. Sie sehen nicht über ihren engen Gesichtskreis hinaus. Sie sind kaum belastbar. Sie sind unfähig, ihre eigenen Grenzen, aber auch die ihrer Gruppe, auszuweiten, um neues Leben zuzulassen.

    Wer über das Thema „Grenzen“ spricht, wird auch immer wieder mit aktuellen Fragen konfrontiert. In letzter Zeit wird etwadas Thema des sexuellen Missbrauchs zunehmend diskutiert, ein lange tabuisiertes Problem. Auch dabei handelt es sich immer um Nichtbeachtung von Grenzen. Auch unser eigener Körper ist ja eine Grenze, und körperliche Distanz gehört ebenso zu unserem Leben in der Gemeinschaft wie Nähe. Nähe ist dabei immer auch Ausdruck von Vertrauen. Vertrauen kann aber missbraucht und verletzt werden. Unsere Sprache kennt die Formulierung, dass einem jemand „zu nahe kommt“, wenn Grenzen überschritten werden. Missbrauch ist vor allem die Versuchung von Menschen, die in einer stärkeren Position sind: von Vätern, Onkeln, älteren Brüdern, von Seelsorgern, Therapeuten, Ärzten und Lehrern. Sie nehmen weder ihre eigenen Grenzen noch die der ihnen Anvertrauten wahr und missbrauchen Nähe und Vertrauen.

    Umgekehrt erleben wir freilich in der Begleitung auch Menschen, die unsere eigenen Grenzen nicht wahrhaben wollen. Sie können ein Nein nicht akzeptieren. Sie versuchen, mit allen Mitteln ihre eigenen Erwartungen durchzusetzen. Und sie wollen nicht verstehen, dass auch wir Grenzen haben, die wir nicht ständig ausweiten möchten.

    Auch Fragen der persönlichen Lebensgestaltung stehen in einem größeren gesellschaftlichen und politischen Zusammenhang: In einer sich globalisierenden Welt, die immer weniger Grenzen kennt, fällt es den Menschen offensichtlich ebenfalls schwer, zu ihren Grenzen zu stehen. Wir erleben zwar einerseits, wie befreiend es ist, wenn wir etwa innerhalb der EU von einem Land in das andere fahren können, ohne uns den früher oft so langwierigen und unangenehmen Grenzkontrollen unterziehen zu müssen. Auf der anderen Seite erleben wir auch die Gefahren der Grenzaufhebung. Die Identität wird unklar. Durch die offenen Grenzen haben zudem Kriminelle größere Chancen, und esgibt nicht nur einen Zugewinn an Freiheit, sondern es wachsen bei vielen Menschen auch Angst und Unsicherheit.

    In einer Epoche zunehmender Beschleunigung und ständiger Wachstumsforderung ändert sich zudem auch das Lebensgefühl. Alles gleichzeitig, alles sofort und jederzeit. So lautet das geheime Grundgesetz in einer Nonstop-Gesellschaft, ein Gesetz, nach dem viele heute leben. Pausenlos jagen die Menschen nach dem Glück oder nach dem, was sie dafür halten. Unsere Zeit leidet an der Maßlosigkeit und Grenzenlosigkeit. Das spürt man nicht nur im privaten Leben, sondern immer öfter auch im beruflichen Umfeld, wo der Druck im schwieriger werdenden wirtschaftlichen Umfeld zu steigenden Belastungen führt, die oft die Grenzen des Zuträglichen überschreiten. Viele meinen, sich immer mehr aufbürden zu müssen, um sich zu beweisen. Oder sie erfahren schmerzlich, wie ihnen von Vorgesetzten immer mehr an Arbeit zugemutet wird.

    Für viele gibt es auch keine Zeitgrenzen mehr. Alles lässt sich gleichzeitig erledigen: Beim Reisen telefoniert man, um andere zu informieren, wo man gerade ist. Man lässt sich nicht auf die Fremde ein. Man fährt in die Fremde und möchte doch den Kontakt nach Hause. So verwischen sich die Grenzen. Man überschreitet die Grenze in die Fremde nicht mehr, sondern löst sie auf. Solche Grenzenlosigkeit – in welchen Zusammenhängen auch immer sie auftaucht – tut dem Menschen nicht gut. Häufig macht sie sogar krank. Manche Therapeuten meinen, dass die heute so rapid zunehmende Krankheit der Depression ein Hilfeschrei der Seele gegen die Grenzenlosigkeit sei: Die Depression zwingt den Menschen, sich auf sich selbst zurückzuziehen. Sie soll ihn sozusagen vor dem Zerfließen schützen.
    Eine andere Grenzenlosigkeit
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