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Grenzen setzen – Grenzen achten

Titel: Grenzen setzen – Grenzen achten
Autoren: Anselm Grün/Ramona Robben
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den Ehrgeiz, diese depressive Frau heilen zu können. Am Anfang blüht die Frau auch auf, weil sich der Seelsorger ihr viel offener zuwendet. Doch irgendwann kommt auch er an seine Grenzen. Und dann stößt er oft die depressive Frau sehr unsanft von sich. Die Verletzung, die durch dieses Wegstoßen geschieht, ist dann tiefer als die heilende Wirkung der ersten Gespräche. Ein Seelsorger sollte sich also klar werden darüber, ob er sich berechtigterweise zutrauen darf, diesem Menschen zu helfen. Die Grenze ist natürlich fließend. Es braucht ein feines Gespür, um diese Grenze bei sich selbst wahrzunehmen. Nur wenn wir selber diese Sensibilität entwickeln, werden wir auch die Grenzen des anderen wahren. Vielleicht können wir demanderen wirklich eine Nähe und ein Verständnis zeigen, das ihn zu heilen vermag. Aber es ist immer ein Geschenk, wenn Heilung geschieht. Wir können sie nicht machen . Therapeut und Seelsorger sind nicht Heiland für die, die sie begleiten.
Missbrauchserfahrungen
    In die Begleitung kommen auch immer wieder Frauen, die von einem Therapeuten sexuell missbraucht worden sind. Oft wollten diese Frauen den sexuellen Missbrauch, den sie in der Kindheit erlitten haben, in der Therapie bearbeiten. Doch dann gerieten sie an einen Therapeuten, der ihnen zuerst viel Verständnis und Nähe entgegenbrachte. Sie fühlten sich verstanden. Und in dieser Atmosphäre merkten sie anfangs gar nicht, wie der Therapeut seine Grenze überschritt. Eine Therapeutin, die viel mit sexuell missbrauchten Frauen arbeitet, erzählte, dass gerade Therapeuten aus dem esoterischen Milieu die Grenze häufig überschreiten. Sie sprechen dann vom kosmischen Bewusstsein, an dem sie den Klienten Anteil geben möchten. Sie möchten ihnen die Erfahrung von Einssein vermitteln. Doch hinter solchen Ideen verbirgt sich manchmal eigene Unreife und Bedürftigkeit. Solche Therapeuten nutzen die Verletzung ihrer Klienten für ihre eigenen Bedürfnisse aus. Und sie überhöhen ihre Unreife, indem sie sie mit einer philosophischen Theorie von kosmischem Eins-werden ummanteln. Solche ideologische Überhöhung macht blind für die Wahrheit – und ist gefährlich für die Betroffenen.

    Therapeuten, die vom Eins-werden mit ihren Klienten sprechen, haben bei ihrer Grenzüberschreitung kein Schuldgefühl. Sie meinen, sie würden der Klientin einen Gefallen erweisen, wenn sie ihr an der kosmischen Einheitserfahrung Anteil geben.Oft wird mit dieser Idee von Einssein das Gespür für die Personalität des einzelnen aufgegeben. Letztlich ist solches Schwärmen von dieser Einheit oft nichts anderes als Regression in den vermeintlich paradiesischen Zustand, in dem noch alles eins war. Offensichtlich schwindet mit dem Verständnis der Personalität des Menschen auch das Gespür für Schuld. Schuld empfindet nur, wer ein Gespür für Grenzen hat, die er in der Schuld überschreitet. Die Auflösung von Schuld ist freilich nicht ohne Konsequenzen. Die Schuldgefühle nisten oft in anderen Bereichen der Seele und die Klientin weiß dann nicht mehr, wer sie eigentlich ist. Sie verliert das Gespür für sich und gerät oft in eine tiefe Verzweiflung. Sie hat keinen Grund mehr unter den Füßen.

    Für Frauen, die sexuell missbraucht worden sind, ist es nicht einfach, ein natürliches Gespür für ihre Grenzen zu entwickeln. Sie schwanken oft zwischen der Tendenz, sich vor dem andern zu verschließen, um nicht mehr verletzt zu werden, und dem Bedürfnis, sich zu öffnen. Manchmal bieten sie dann eine Offenheit an, die der Begleiter als Einladung zum Missbrauch versteht. Umso wichtiger ist es, dass der Therapeut oder Seelsorger ein klares Gespür für die eigenen Grenzen und für die Grenzen der Klientin entwickelt. Indem er sich abgrenzt und zugleich Nähe zeigt, ermöglicht er es auch der Klientin, ein gesundes Verhältnis zu Nähe und Distanz zu erlernen.

    Eine Frau, die in ihrer Jugend selbst vergewaltigt worden ist, ist dadurch sehr sensibel für Menschen geworden, die ihre Grenze überschreiten. Wenn sie mit ihrem kleinen Kind im Park spazieren geht, ist da ein alter Mann, der Kinder zu sich ruft, ihnen Schokolade schenkt und sie streichelt. Sie hat das Gefühl des „Schmierigen“. Es ist nicht die Freundlichkeit eines alten und milden Mannes. Sie spürt bei ihm etwas, das ein Übergriff ist. Es ist nicht eine reife Form selbstloser Freundlichkeit. Vielmehrlebt der alte Mann offensichtlich an den Kindern seine eigene Bedürftigkeit aus. So etwas ist
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