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Grenzen setzen – Grenzen achten

Titel: Grenzen setzen – Grenzen achten
Autoren: Anselm Grün/Ramona Robben
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„Verkameradschaftung“ eine raffinierte Weise, Menschen zu vereinnahmen und ihnen ihre Individualität zu rauben.

    In den Medien lesen wir heute ständig von ähnlichen Grenzverletzern. Da gibt es Menschen, die achten die Würde des Kindes nicht, sondern beuten es für sich sexuell aus. Ihre Gier macht sie blind gegenüber der Würde des Kindes. Auch der Mann, der eine Frau vergewaltigt, hat jedes Gespür für die Grenze verloren. Doch es gibt ja nicht nur die Extremfälle von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch. Es gibt viele sublimere Weisen der Grenzverletzung. Da kommt einem jemand im Gespräch zu nahe. Jeder hat ein Gespür für seine Grenze. Doch der Grenzverletzer überschreitet sie. Er geht nur von sich und seinem Bedürfnis aus. Er ist unfähig, sich in das Bedürfnis des anderen hinein zu spüren. Es gibt Männer, die jede Frau betätscheln müssen, und, zur Rede gestellt, sagen, dass sie einfach nicht so prüde seien, wie es in unserer Gesellschaft üblich ist und dass sie doch nur herzlich sein und uneigennützig Nähe schenken möchten. Doch hinter solchen Begründungen verstecken sie nur egoistische Absichten und nicht eingestandene eigene Bedürfnisse.

    Im therapeutischen oder seelsorglichen Gespräch erleben wir, wie einleitend schon angedeutet, manchmal auch, wie die Klienten ihre Grenzen in dieser ganz besonderen Situation überschreiten. Nachdem sie von sich erzählt haben, wechseln sieplötzlich ihre Rolle und spielen sich selbst zum Therapeuten auf. Sie konstatieren dann auf einmal voll Mitgefühl, der Therapeut sehe heute so schlecht aus und fragen ihn nach seinen Sorgen. Er braucht die therapeutische Distanz, um dem Klienten helfen zu können. Doch mancher Klient möchte diese Grenze nicht wahrhaben.
Unter dem Deckmantel des Helfers
    Die Gefahr der Grenzverletzung durch die Therapeutin oder den Seelsorger gibt es selbstverständlich auch. Sie ist immer dann gegeben, wenn sie sich mit einem archetypischen Bild identifizieren. C.G. Jung nennt diese Identifikation mit dem Archetyp Inflation . Man bläht sich auf und wird dabei blind für die Grenzen des anderen. Wenn z. B. in der Beratung eine Frau darüber klagt, dass sie niemanden hat, der sie umarmt, dann wäre es fatal, wenn der Seelsorger sich mit dem Archetyp des Helfers identifizieren würde. Er würde unter dem Deckmantel des Helfers die Frau umarmen – und gar nicht merken, wie er dabei sein eigenes Bedürfnis nach zärtlicher Nähe ausagiert. Das heißt nicht, dass wir nicht Nähe zeigen sollen, wenn es angebracht ist. Aber es braucht ein feines Gespür dafür, was dem anderen gut tut. Wer sich mit dem Bild des Helfers identifiziert, verliert das Gespür für den anderen. Er wird von seinem inneren Bild gedrängt, den anderen mit seiner Nähe zu überschütten. Er ist sich seiner eigenen Bedürfnisse nicht bewusst. Er meint, er würde den andern umarmen, weil der es brauche. In Wirklichkeit braucht er es selbst. Doch er gesteht sich seine eigenen Bedürfnisse nicht ein. Jeder Therapeut und jede Seelsorgerin hat Bedürfnisse nach Nähe. Die Kunst und die Disziplin der Begleitung besteht darin, sich diese Bedürfnisse bewusst zu machen und sich zugleich davon zu distanzieren.

    Genauso gefährlich ist in der Begleitung der Archetyp des Heilers. Von der Begleitung soll Heilung ausgehen, und oft genug geschieht auch wirkliche Heilung. Doch wenn sich der Begleiter mit dem Archetyp des Heilers identifiziert, dann übernimmt er sich. Er leugnet die eigenen Grenzen. Er zieht kranke Menschen an und schreibt das seiner heilenden Ausstrahlung zu. Eine Frau erzählte, ein Priester habe ihr gesagt, er könne sie von der Wunde des sexuellen Missbrauchs heilen. Sie solle alle vier Wochen zum Beichtgespräch kommen. Das sah dann so aus, dass er sie während des Beichtgesprächs eine Stunde lang fest umarmte. Die Frau war verwirrt. Aber sie meinte, der Priester meine es doch gut. Er sei ja ein bekannter und beliebter Priester. Vielleicht sei sie selbst nur etwas verklemmt. Beim Erzählen, zwanzig Jahre später, kam ihr wieder der eklige Geruch seines Schweißes in die Nase. Erst sehr viel später ging ihr auf, dass der Priester sein eigenes Bedürfnis nach Nähe an ihr ausgelebt hat.

    Es gibt immer wieder Seelsorger, die vor allem depressive Menschen anziehen. Wenn sie hören, dass etwa eine Frau schon lange in therapeutischer Begleitung war, ohne dass ihr geholfen werden konnte, springt bei ihnen der Archetyp des Heilers an. Sie entwickeln
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