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Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Titel: Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
Autoren: Michael Dissieux
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seiner Messingspitze erkennen. Mikey hatte in der Mitte der kleinen Gesangsgruppe gestanden, Wulf saß zusammen mit Ellen in der ersten Reihe vor der Bühne. Wie so viele andere Väter hielt Wulf einen kleinen Camcorder in der Hand, mit dem er den Auftritt aufzeichnen wollte.
Mikey wirkte so winzig und zerbrechlich zwischen den anderen Jungen. Er war schon immer zu klein für sein Alter gewesen, doch erst jetzt, inmitten der anderen Kinder, die ihn alle um gut einen Kopf überragten, und in einem Anzug, der ihm zwei Nummern zu groß zu sein schien, trat Mikeys Größe deutlich hervor. Dennoch war er für Wulf immer das Größte auf der Welt gewesen.
Als die Musik einsetzte und die Jungs anfingen zu singen, begann Wulf zu filmen. Das kleine Theaterstück handelte von den Rassenkonflikten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts und zog sich in der zeitlichen Abfolge bis in die späten Neunziger mit ihren Straßenschlachten zwischen Weißen und Schwarzen hin. Auf Gewaltszenen wurde selbstverständlich verzichtet, doch wollte man die Sinnlosigkeit von Rassentrennung durch zahlreiche Dialoge und Gesangseinlagen verdeutlichen. Inszeniert wurde es von Mr. Thomson, dem Musiklehrer der Schule. Die Songs waren alle recht schlicht, und doch besaßen sie eine Magie, welche die Melodie unvergesslich im Kopf einbrannte. Wulf konnte sich noch an jedes Lied erinnern. Aber besonders an diesen Song, bei dem Mikey auf der Bühne stand.
Während er die Spitze des Turms betrachtete, dachte er an jenen Sommertag zurück. Er hörte die Stimmen der Jungs in seinem Kopf und war sich sicher, Mikeys helle Stimme von denen der anderen unterscheiden zu können. Er glaubte sogar den Geruch der verbrauchten Luft in der Turnhalle zu riechen, obwohl er jetzt in der Auffahrt seines Hauses stand und der kalte Wind ihm den Gestank von verdorbenen Lebensmitteln und anderen fauligen Gerüchen zutrug.
Er wünschte sich, er könnte noch einmal diesen Tag erleben, an dem Ellen ihren Punsch trank, während er den Auftritt filmte und Mikey ohne Unterlass in die Kamera starrte. Später am Abend, beim Betrachten der Aufnahmen auf dem Fernseher, hatten sie sich köstlich darüber amüsiert. Mikey war der, der am lautesten lachte. Doch solche Tage waren ebenso verschwunden wie die Träume, die man mit Freunden teilen konnte.
Der Song verstummte. Die Stimme seines Sohnes wurde immer leiser und verhallte dann wie ein fernes Flüstern in seiner Erinnerung. Zurück blieb die Stille, die Deep Water am Atmen hinderte. Seit fast zwei Wochen lag dieses undurchdringliche Tuch über der Stadt und verwandelte das Leben in ein langsames, quälendes Sterben.
Wulf startete sein Motorrad. Das Knattern der Maschine zerfetzte das Schweigen um ihn herum und ließ die Luft vibrieren. Der Geruch von Benzin und Öl stieg ihm in die Nase und verdrängte den Gestank des Todes. Er warf einen letzten Blick über die Schulter zum Haus zurück. Mikey und Ellen lagen im Garten, begraben unter der großen Tanne, die Mikey so sehr geliebt hatte. Das war das Einzige, was er für sie tun konnte, bevor Sie die Leichen mitnahmen.
Alles, was Wulf blieb, waren die Erinnerungen an eine Zeit, die ihm fremd und lange her zu sein schien. Manchmal kam das bizarre Gefühl in ihm hoch, sich durch einen schrecklichen Traum zu bewegen und nicht aufwachen zu können. So sehr er auch schrie, die Welt blieb dunkel und still.
Als er mit seiner Maschine zur Straße fuhr, fühlte er sich müde. Wie gerne würde er sich zu Mikey legen, die Augen schließen und einfach einschlafen. Der Song aus der Schule schwappte aus seiner Erinnerung an die Oberfläche. Mikeys Stimme klang wie ein Chor von Engeln. Während er langsam durch die Straßen seiner Stadt fuhr, summte er leise die Melodie mit.
Er wusste nicht, wohin er fuhr. Er wollte einfach nur weg. Weg von seinem Haus, weg von der Schule, weg von Ellen und Mikey.
Er war Jim, der sich in Wulf verwandelt hatte. Der Held seines kleinen Sohnes.
Er sollte seine Familie vor dem Bösen beschützen.
Doch diesmal hatte der Tod gesiegt …
II
Der alte Mann starrte zum Fenster hinaus. Ein weiterer düsterer Tag versteckte sich über den Baumkronen und ließ einige graue Pfützen Tageslicht durch die Zweige sickern. Hier unten, unter den Birken und Weiden, war es immer Nacht.
Er wusste nicht, wonach er Ausschau hielt.
Ob er darauf wartete, dass die Kreaturen zurückkamen, oder ob er hoffte, die hagere Gestalt seines alten Kumpels noch einmal sehen zu dürfen, wusste er nicht.
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