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Dunkle Tage

Dunkle Tage

Titel: Dunkle Tage
Autoren: Gunnar Kunz
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1.
Mittwoch, 10. März bis Donnerstag, 11. März 1920
     
     
    Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso gut töten wie mit einer Axt.
Heinrich Zille
1
    Professor Hendrik Lilienthal verlor sich in der Betrachtung einer tief hängenden Wolke, während er mit seinem Fahrrad in den Kurfürstendamm einbog. Ein Mann mit eingefärbter Uniformjacke und Korkenzieherhosen, der gezwungen war, zur Seite zu springen, schimpfte hinter ihm her. Der Professor hörte es nicht einmal. Sein Körper mochte sich auf der Straße befinden, sein Geist weilte wie so oft in anderen Sphären. Sollte er in der morgigen Vorlesung auf Platons Höhlengleichnis eingehen? Wie viel Wahrheit enthielten die Korruptionsvorwürfe gegen Reichsfinanzminister Erzberger? Und warum hatte das Horn des Stoewer D6, der neben ihm eine Vollbremsung machte, einen so misstönenden Klang?
    Hendrik Lilienthal sah einer Vogelscheuche ähnlicher als einem Professor mit seinen wirren schwarzen Haaren, in die sich bereits die ersten grauen Strähnen verirrten, seiner zerknitterten Kleidung und dem offenen Mantel. Wie immer weigerte er sich, sein Hemd bis oben zuzuknöpfen – wenn ich mich strangulieren will, besorge ich mir einen Strick, pflegte er zu sagen – dafür flatterte ein zwei Meter langer Schal im Fahrwind hinter ihm her. Die runde Metallbrille war das Einzige, was ihm einen intellektuellen Anstrich gab, und auch die sah aus, als gehörte sie nicht ihm. Er hätte überall fehl am Platz gewirkt, selbst auf einem Kostümball.
    Der Ruf eines Zeitungsjungen holte seinen Geist in die Gegenwart zurück und lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen Kiosk. Im Vorbeifahren überflog Hendrik die Schlagzeilen. Ob es etwas Neues über den Skandal im Adlon oder den Fall Nicolai gab? Offenbar nicht!
    An den Litfasssäulen warben Plakate für die Tanzpaläste. Seit das Tanzverbot mit Ende des Krieges gefallen war, stürzte sich die Bevölkerung wie im Rausch ins Vergnügen – jedenfalls der Teil, der es sich leisten konnte. Berlin galt als Kokainhochburg Europas und besaß die bekanntesten Nachtlokale.
    Ein Gasriecher hielt seine Nase in ein Rohr, dessen Ende im Kopfsteinpflaster versenkt war, und kontrollierte Gasleitungen auf Lecks. Bettelnde Kriegsinvaliden ohne Arme oder Beine säumten den Straßenrand und machten mit müden Rufen auf ihr Los aufmerksam, zwei von ihnen trugen eine Gesichtsmaske, die den weggerissenen Teil des Kopfes verbergen sollte. Ein Scherenschleifer fuhr mit seinem quietschenden Fahrrad und einer Schleifmaschine auf dem Anhänger an einer Straßenkehrerkolonne vorbei. Auf freiem Feld führte jemand ein halbes Dutzend angeleinter Hühner zur Futtersuche aus.
    Berlin mit seinen knapp vier Millionen Einwohnern bot ein buntes Kaleidoskop von Gerüchen, Geräuschen und Bildern, die so manchen Besucher vom Lande schier betäubten. Und war erst die vorgesehene Eingemeindung der Vororte wie Charlottenburg oder Neukölln abgeschlossen, würde Groß-Berlin – oder „die Reichshauptstadt“, wie die national gesinnte Presse zu schreiben vorzog – noch unüberschaubarer werden.
    Hendrik trat kräftig in die Pedale, um eine Steigung zu nehmen. Trotz der Kälte schwitzte er vor Anstrengung, aber die Neugier war ein mächtiger Antrieb. Was mochte sein Bruder nur von ihm wollen? Noch nie zuvor hatte er ihn zu einem Tatort gerufen!
    Schwungvoll bog er in die Königsallee ein. Die hochherrschaftliche Atmosphäre der Villenkolonie Grunewald bot einen vollkommen anderen Eindruck als das Universitätsviertel. Zwischen den Villen mit ihren großzügigen Gartenanlagen hätte bequem eine komplette Arbeitersiedlung aus Neukölln oder dem Wedding Platz gefunden.
    Hendrik sah sich nach der Hausnummer um, die man ihm genannt hatte, und entdeckte sie schließlich auf einem efeuüberwachsenen Schild. Weit und breit war kein Kriminalbeamter zu sehen, nicht einmal ein Schutzmann. Sehr mysteriös! Vermutlich sollte Aufsehen vermieden werden.
    Der Professor stieg von seinem Fahrrad und schob es durch das schmiedeeiserne Eingangstor, das sperrangelweit offen stand, erstes Indiz, dass hier etwas nicht stimmte. Er lehnte das Rad von innen an die Gartenmauer, nahm seine Ledertasche vom Gepäckträger und schritt am gepflegten Rasen vorbei auf das Haus zu. Eine Säulenreihe zierte das Portal, im ersten Stock wölbte sich ein halbrunder Erker vor. Der überdachte Eingang befand sich seitlich, um das Bild der Hausfront nicht zu zerstören, und war nur über eine geschwungene
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