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Graue Schatten

Graue Schatten

Titel: Graue Schatten
Autoren: Peter Nimtsch
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zurück, aber sie hatte gerade zwei Tage frei gehabt, als die beiden Bewohner in zwei aufeinanderfolgenden Nächten gestorben waren. Seitdem war sie das erste Mal dabei, wenn sich die anderen über jene Todesfälle unterhielten.
    Renate klärte sie auf: „Der ist erstickt. An einem Brötchen. Das war aber seine eigene Schuld. Er wusste, dass er Schluckstörungen hat. Er hatte das Brötchen im Nachtschrank versteckt und nachts angefangen zu vespern.“
    Wieder kurzes Schweigen, das von Irene gebrochen wurde: „So ist es halt nun mal, eine Weile ist Ruhe und dann geht's Schlag auf Schlag. Das war schon immer so.“ Sie holte Luft, stellte fest, dass niemand etwas einzuwenden hatte, und fuhr fort: „Aber Frau Sausele wollte ja eigentlich gar nicht mehr. Wann ist das scheiß bissle Leben endlich zu Ende , hat sie in letzter Zeit immer gebarmt!“
    Niemand unterbrach, also plapperte sie weiter: „Aber die Leutle, die war ja genauso unzufrieden. So gesehen wollte sie auch nicht mehr. Zum Bewohnerausflug ist sie auch bloß mitgegangen, weil Frau Büchler sie mitgeschleift hat. Alleine hat sie ja nie einen Schritt vor die Tür gemacht.“
    „Sie wird sich wohl beim Ausflug die süßen Teile eingeworfen haben bis zur totalen Zuckerfressnarkose“, steuerte Anna bei, indem sie mit ihren Worten ein Gerücht weitergab, das sie irgendwo im Haus aufgeschnappt hatte.
    „Frau Leutle hat nachmittags heimlich ein Stück Torte aus dem Kühlschrank genommen und es nachts verputzt, liebste Frau Kirchner“, klärte die Chefin Anna auf. Der leicht gereizte Tonfall lag aber wahrscheinlich nur daran, dass ihr Annas Jargon nicht gefiel. „Und der Überzucker war nicht der einzige Grund“, fuhr sie fort. „Da ist einiges schiefgelaufen. Ich will aber hier nicht gewisse Personen im Haus angreifen, deshalb beenden wir das Thema jetzt lieber.“
    Der rüde Ton hatte gewirkt. Anna traute sich nicht nachzufragen was da wohl schiefgelaufen sei.
    „Den Diabetikerfraß kannste nicht mal den Hasen geben!“, gedachte dafür Irene noch einmal der Bewohnerin, indem sie die schimpfende Frau nachäffte. „Och, und der arme Kevin hatte manchmal seine liebe Not!“, jammerte sie nun, gleichzeitig lachend. „Wenn er sie spritzen musste, und sie hat ihn angeschrien ...!“
    Larissa vermutete, dass Irene noch einmal mit dem Pfleger litt, ihr die Situation andererseits, aus der Ferne betrachtet, aber auch komisch erschien. Und sicher lachte sie auch aus Gewohnheit – ohne Humor war der Job nun mal nicht zu ertragen.
    „Die konnte aber auch gemein sein, wenn sie ihre Phase hatte“, steuert Renate nun doch noch bei.
    „Mich wollte sie auch schon mal rausschicken. Man musste ihr halt geduldig erklären, was passiert, wenn sie ihr Insulin nicht kriegt“, prahlte Irene jetzt.
    „Irene, das wusste Frau Leutle selber ganz genau!“, schaltete sich Larissa zum ersten Mal in die Gesprächsrunde über die Todesfälle ein. „Die wollte provozieren. Und bei manchen klappte es halt.“
    „Ich hatte nie Probleme, vor mir hatte sie einfach Respekt“, behauptete Anna.
    Darüber mussten alle lachen. Irene tätschelte Anna. „Dich hat sie halt gerngehabt. Du warst ihr Enkele, wie sie immer gesagt hat.“
    „Ja klar, aber die nicht mein Omile!“
    Für einen Moment versiegte das Gespräch, bis Irene wieder begann: „Als ob sie dem Kevin noch mal eins damit auswischen wollte, dass sie gerade in seiner Schicht sterben musste.“ Und nach einem Seufzer: „Nachtwache ist halt doch nicht so leicht, wie mancher sich das vorstellt.“
    „Leute, es ist sieben!“ Renate erhob sich. „Wir sollten anfangen, sonst schaffen wir es nicht.“

    Als die anderen den Raum verlassen hatten und Renate am Medikamentenschrank stand, um Tropfen, Säfte, Tabletten, Kapseln, Pulver und Dragees in die Becherchen auf dem Tablett zu verteilen, fiel es ihr schwer sich auf diese Arbeit zu konzentrieren. Obwohl sie sonst selber forderte, auch bei solchen Routinetätigkeiten immer hundertprozentig bei der Sache zu sein, arbeiteten ihre Hände nun beinahe selbstständig, während ihre Gedanken zunehmend abdrifteten.
    Bilder drängten sich immer wieder in ihr Bewusstsein: gestern, die heulende und zeternde Frau Sausele in ihrem Bett, Dr. Hansen, der Renate mit ungewohnter Selbstsicherheit mitteilte, dass er der Frau einen Milliliter Morphium intravenös injizieren werde; heute Morgen Kevin, der jetzt stärker mitgenommen aussah als bei den beiden Todesfällen letzte Woche. Und die
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