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Graue Schatten

Graue Schatten

Titel: Graue Schatten
Autoren: Peter Nimtsch
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fragen. Ihr wohlhabender Sohn wird noch eine, seinem Prestige angemessene, repräsentative Beisetzung für sie arrangieren. Und damit wird das Kapitel Marta Sausele abgeschlossen sein.
    Wozu sich also den Kopf zerbrechen? Wenn es so gewesen sein sollte, dann hätte die Frau es selbst so gewollt.
    Andererseits ... vielleicht hatte sie nur eine depressive Phase gehabt und nach der OP wäre ihr Lebensmut wiedergekehrt? Ihre Zeit war eigentlich längst noch nicht gekommen! Das wussten nicht nur Renate und alle Pflegerinnen, die einige Jahre in diesem Geschäft waren. Dr. Hansen hatte selber noch vor Tagen prophezeit: „Sie wird trotz ihrer Krankheit noch zehn Jahre leben, wenn man ihr den Fuß entfernt.“
    Das waren seine Worte gewesen!
    So ging es in Renates Kopf hin und her, bis sie feststellte, dass sie schon die Tabletten bis zum Abend vorbereitet hatte. Jetzt musste sie nur noch die selbstständige Arbeit ihres motorischen Zentrums in der linken Gehirnhälfte von den entsprechenden sensorischen Rindenfeldern ihres Großhirns überprüfen lassen. Nicht, dass irgendwo statt einer Schlaftablette eine Pille zur Ödem-Ausschwemmung gelandet war.
    In irgendeinem Zimmer schimpfte Irene. Ansonsten war es noch immer ruhig. Die Station erwachte erst gegen halb acht ... Wie spät war es eigentlich?
    Sie sah hinter dem Medikamentenschrank hervor, um auf die Uhr über der Tür zu schauen – zuckte vor Schreck zusammen, wich gleichzeitig zurück und stieß mit der Wade heftig gegen einen Stuhl, der hinter ihr stand. Sie starrte zur Tür und spürte, wie sich die langen, blond getönten Haare auf ihrem Kopf vergeblich aufzustellen versuchten.
    „Herr Eiche! Was machen Sie hier?“ Renate erwartete keine Antwort von dem Hünen, der stumm im Schlafanzug in der Tür stand und sie vorwurfsvoll und zugleich irr anstierte. Unbewusst hatte sie mit ihrer Frage nur ihre plötzliche Panik kanalisieren wollen. Doch ihre Stimme klang weniger scharf, als sie es von ihr gewöhnt war – eher dünn und seltsam trocken. Die Stille des engen Raumes schien ihre Worte zu verschlucken. Wahrscheinlich erreichten sie Herrn Eiche sowieso nicht.
    In ihrer Halsschlagader klopfte das Blut, schnell und schmerzhaft. Irgendwie musste sie die Situation unter Kontrolle bekommen. „Gehen Sie mal ganz schnell zu Ihrer Station!“
    Der Riese bewegte sich keinen Millimeter, stattdessen glotzte er Renate nun an wie ein Zoobesucher den Vogel im Käfig. Als sie ihre Aufregung einigermaßen im Griff hatte, kamen in Sekundenbruchteilen scharenweise die Fragen: Wie war der Mann so leise bis hierher ins Schwesternzimmer gekommen? Wenn sie ehrlich war, hatte sie vorhin sogar ein schlurfendes Geräusch auf dem Flur gehört, es aber nicht beachtet. Warum auch? Wer rechnete denn mit so etwas?
    Wieso stand der verwirrte Mann überhaupt um diese Zeit hier und lag nicht fünfzehn Zimmertüren weiter auf Station A in seinem Bett? Hatte er sein Sedativum nicht bekommen? Oder war es schon wieder so weit, dass er nach Weinsberg zum Einstellen müsste, weil die Dosis nicht mehr ausreichend wirkte? Noch wichtiger war allerdings: Wie kam sie hier heil heraus? Immerhin hatte Herr Eiche in seinen aggressiven Phasen mit seiner Kraft schon für gefährliche Situationen gesorgt.
    Andererseits waren die von Station A immer irgendwie mit ihm fertig geworden. Renate erkannte, dass ihr Organismus überregagierte. Schließlich hatte sie kaum geschlafen und sowieso schon zu viele Stresshormone im Kreislauf.
    Einfach aktiv werden, reden, aber gleichzeitig ruhig bleiben!
    „Herr Eiche, Schwester Martina wird Sie schon suchen. Wir gehen am besten zusammen zu ihr.“ Sie schob den ausziehbaren Medikamentenschrank vorsichtig hinein und ging gewinnend lächelnd, langsam auf den Mann zu, der immer noch den Türrahmen ausfüllte. „Oder werden sie heute vom Herrn Locke versorgt?“
    Noch ehe Renate bei ihm angelangt war, machte Herr Eiche plötzlich einen Schritt nach vorn, bellte dumpf etwas, das wie „No“ klang, und nahm mit geballten Fäusten die drohende Haltung eines Boxers ein. Eine Gebärde, die bei ihm nicht neu und in der Regel ungefährlich war, die man aber prinzipiell nicht unterschätzen sollte. Momentan sah es so aus, als wolle er Renate weder an sich heran noch aus dem Schwesternzimmer lassen.
    Sie blieb in der Mitte des Zimmers stehen. „Jagen Sie mir nicht so einen Schrecken ein!“ Die Stationsleiterin versuchte zu lächeln und freundlich, aber zugleich selbstsicher zu
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