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Graue Schatten

Graue Schatten

Titel: Graue Schatten
Autoren: Peter Nimtsch
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klingen. „Sie sollten sich etwas anziehen. Sie wollen ihre Kinder doch bestimmt nicht im Pyjama begrüßen.“
    So wie er dastand, wollte er das Spiel „Ätsch gefangen!“ spielen. Jetzt grinste der Alte auch noch zahnlos. Ein bizarres Bild, eigentlich zum Lachen. Das würden sie später sicher auch zusammen tun, wenn Renate es den anderen erzählte.
    Nur gab es jetzt gerade ein kleines Problem: Die Architekten der hausinternen Notrufanlage waren wohl nicht davon ausgegangen, dass eine Mitarbeiterin im Schwesternzimmer am Kaffeetisch sitzend dringend Hilfe benötigen würde. Denn der einzige Alarmknopf des Raumes befand sich über dem Schreibtisch, direkt neben der Tür. Den Weg dorthin versperrte Herr Eiche.

    „Zu viel Schatten hier! Überall die grauen Schatten! ..., schwerer als je im Jahr, lasteten über der grauen Stadt ...“
    Wieder verknüpfte sich ganz von selbst einer der Ausdrücke, mit denen sie ihre Empfindungen ausmalte, mit einem der alten Verse, die ihr noch aus ihrer Theaterzeit in Berlin geläufig waren. Elvira Degner spulte die Zitate ab, ohne sich anstrengen zu müssen. Wie Eisenbahnwagons rollten sie einfach so durch ihren Kopf. Sie vertrieben ein bisschen die Angst: „In der Nacht hatte ein letzter nasser Novembersturm von Westen her die alten Dächer unsanft gerüttelt ... und alle ängstlichen und wundergläubigen Herzen jäh aus geruhigem Schlaf geheult“, rezitierte sie flüsternd.
    Lass ihn heulen da draußen.
    Doch die Schatten machen einem Angst.
    Das Licht hilft. Aber nur wenig. Es ist zu schwach. Die grauen Schatten sind zu mächtig!
    Dort drüben, was ist das?
    Ich muss Herbert anrufen. Er wird das verstehen. Es kann nun mal später werden, wenn Theaterleute zusammensitzen. Er muss sich um Herta kümmern, sie ins Bett schicken. Nicht, dass sie wieder bis spät in die Nacht liest!
    Elvira Degner schaute ängstlich unter der Bettdecke hervor. Ihre Phantasie spielte manchmal verrückt, vor allem dann, wenn die Achtzigjährige mitten in der Nacht aufwachte. Sie wusste, sie hatte dann Unterzucker und ihr Kreislauf befand sich so tief im Keller, dass ihr Kopf nicht mehr ausreichend durchblutet war. Aber dieses Wissen nutzte ihr nichts, denn da drüben war wieder so ein Schatten, der äußerst bedrohlich wirkte.
    Sie reckte vorsichtig den Hals.
    Man muss das besser ausleuchten, schimpfte der Intendant.
    Die dunkle Silhouette war beängstigend groß, aber immerhin kein Mensch. Nur ein grauer Haufen, wie eine Gewitterwolke, da wo der Stuhl zwischen ihrem Kleiderschrank und dem Tisch stand. Hinter jener dunklen Wolke schien das Licht durch die Milchglasscheibe über der Badtür auf den Schrank. Dieses Licht holte sie langsam in die Wirklichkeit zurück.
    Der bedrohliche Haufen war nur das Deckbett der Stummen. So nannte Frau Degner ihre Zimmermitbewohnerin. Die Schwestern hatten es zum Auslüften über die Stuhllehne gehängt. Sie war also gar nicht im Theater. Sondern?
    ... im Pflegeheim!
    Umso schlimmer! Hier im Reich der Schatten bekam jeder dunkle Fleck eine neue, unheilvolle Bedeutung. Besonders seit der letzten Nacht.
    Durch die heruntergelassenen Rollläden gelangte ebenfalls matter Lichtschein in die düstere Kammer, denn die Straßenlaternen brannten hier die halbe Nacht. Über dem Bett der Stummen malte das Licht helle Streifen an die Wand, auf denen sie sich wiederum abzeichneten – die Schatten. Elvira Degner konnte die Stumme nicht sehen. Sie lag dort wahrscheinlich unter einem Berg Kissen begraben. Aber den gespenstischen Schatten der Maschine, den sah sie an der Wand: die Säule, die Flasche, die da hing und an der Wand viel dicker aussah, ebenso wie der Schlauch, der in die Stumme hineinführte. Und der diabolische Apparat selbst, der ständig langsam tickte wie eine Uhr, die nur jede zweite Sekunde zählte, derweil die Flüssigkeit in die Stumme lief.
    Bei dem Gedanken schaute sie unwillkürlich auf ihren Funkwecker. Die leuchtenden Zeiger zeigten fünf Minuten nach halb drei an.
    Aber es war zu laut für diese Uhrzeit!
    Erst jetzt wurden ihr die Geräusche vor der Zimmertür bewusst. Was war da draußen los? Das grenzte ja schon an Lärm. Doch sich über die nächtliche Ruhestörung zu beschweren, das war nicht ihre Art. Und in der momentanen Situation zog sie es schon zweimal vor, sich lieber noch tiefer unter der Bettdecke zu verkriechen.
    Die Zimmertür flog auf, rabiat und gnadenlos. Das Licht explodierte regelrecht und blendete sie. Ihr Atem stockte vor Angst. Das
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