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Graue Schatten

Graue Schatten

Titel: Graue Schatten
Autoren: Peter Nimtsch
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waren, weiß Gott, zu außergewöhnlich gewesen, als dass sie jemand, der so nah wie Kevin dabei war, einfach so wegstecken konnte!
    Der gestrige Sonntagnachmittag bis zu ihrem Feierabend zog noch einmal im Schnelldurchlauf an Renate vorbei: Sie hatte mit Anna die erste Schicht gemacht. Sie hatten von morgens halb sieben bis sechszehn Uhr dreißig durchgearbeitet. Irene und Larissa hatten geteilten Dienst, also Pause von zwölf bis sechszehn Uhr dreißig. Renate war mit Anna allein auf der Station, was das Pflegepersonal betraf, als Frau Sausele nach dem Kaffee ihr Drama aufführte.
    Gejammert hatte Frau Sausele schon den ganzen Tag, aber erst als ihr Sohn da war, ging es richtig los. Anna beeindruckte das sehr. Sie kannte die Frau noch nicht so lange wie Renate und wusste nicht, dass sich Frau Sauseles Verhalten am gestrigen Nachmittag nicht allein mit unerträglichen Schmerzen erklären ließ, sondern auch damit, dass die Frau, bildlich gesehen, brillant Theater spielte.
    Sauseles Sohn kam wie jeden Sonntag zur Kaffeezeit. Von da an klingelte Frau Sausele zweimal, erklärte heulend, dass sie es nicht mehr aushalte, und fragte, ob sie zusätzlich etwas gegen die Schmerzen bekommen könnte. Dem Sohn war das sehr unangenehm. Beim ersten Mal schickte sie Anna rein, das zweite Mal ging Renate selbst ins Zimmer und erklärte ihr, dass sie sich an die Anordnung von Dr. Hansen halten müssten; und der hatte kein Schmerzmittel für zwischendurch verschrieben. Nach einer Viertelstunde fragte dann der Sohn, ob er vom Schwesternzimmer aus Dr. Hansen anrufen könnte.
    Der Arzt erschien prompt, und zehn Minuten später hatte die geplagte Frau ihre Spritze. Aber das Gezeter fing bereits kurze Zeit später wieder an. Hansen war da noch immer anwesend. Der Hausarzt der Sausele und gleichzeitig ein guter Freund des Sohnes blieb noch eine halbe Stunde bei seinen beiden Privatpatienten, obwohl er eigentlich frei hatte. Erst als beide weg waren – der Sohn und dessen Freund – war die Sausele ruhig.
    Nicht, dass Dr. Hansen leichtsinnig wäre. Nein, er hatte sich zuerst bei Renate erkundigt, welche Medikamente in welcher Dosis seine Patientin am Sonntag bereits erhalten hatte. Vor allem in Bezug auf die Bedarfsmedikation, das Diazepam, das sie eigentlich nur abends bekommen durfte. Er wollte sichergehen. Dann sagte er zu Renate, dass man das Diazepam an diesem Abend auf keinen Fall geben sollte, auch wenn die Spritze dann nur noch sehr schwach wirken würde. Renate bat ihn, diese Anordnung zu dokumentieren. Das tat er. So weit war alles in Ordnung. Worüber zerbrach sie sich also jetzt den Kopf? Dr. Hansen war kein nachlässiger Arzt. Im Gegenteil, er war gewissenhaft.
    Andererseits ...
    Er war eben nicht sehr selbstsicher, fragte oft ältere, erfahrene Pflegekräfte, was sie von diesem oder jenem Medikament hielten. Eine Formulierung, die nie fehlte, zumindest nicht, wenn Renate dabei war, lautete: „Dann versuchen wir's mal mit ..., nicht?“
    Und dann folgte immer ein fragender, um Zustimmung bittender Blick. Das war gestern nicht so gewesen. Sie war auch gar nicht dazu gekommen, ihm zu sagen, was sie von einer Ampulle Morphium zusätzlich hielt. Als sie ins Schwesternzimmer kam, hatte er den Medikamentenplan studiert. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alles in Ordnung war, und ihr mitgeteilt hatte, was er zu tun gedachte, war er schnurstracks wieder hinausgeeilt.
    Die Sausele wiederum hatte unsichere Menschen ja auszunutzen gewusst. Oft genug hatte sie Pflegeschüler, oder überhaupt junge Pflegekräfte, um den Finger gewickelt. Wie eine Kaiserin hatte sie sich von ihnen bedienen lassen!
    Hansen war zwar nicht gerade unerfahren, doch leicht beeinflussbar allemal. Sie hatte sicher Schmerzen gehabt, verfügte aber eben auch über ein großes schauspielerisches Talent. Außerdem war sie Privatpatientin gewesen. Was, wenn sie die Unsicherheit ihres Hausarztes ausgenutzt, ihn und ihren Sohn so lange genervt hat, bis Hansen nicht mehr anders konnte, als ihr die Spritze zu geben, und der Arzt sich schließlich mit der Dosis verschätzt hat? Immerhin war Frau Sauseles Kreislauf in letzter Zeit geschwächt, zum einen durch das Morphium, das sie täglich bekam, und zum anderen, weil sie sich kaum bewegte. Und sie hatte keinen Lebenswillen mehr, zumindest in letzter Zeit nicht. Was, wenn sie sich von ihrem Hausarzt das unerträgliche Leben hat verkürzen lassen? Was wäre dann? ...
    Gar nichts. Jetzt nicht mehr. Es wird keiner danach
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