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Graue Schatten

Graue Schatten

Titel: Graue Schatten
Autoren: Peter Nimtsch
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normal, dass sie acht Minuten nach Beginn der Übergabe erschien. Renate überlegte kurz, ob sie ihre Unpünktlichkeit wieder einmal beanstanden sollte, entschied sich aber dagegen. In ein paar Wochen würde Anna ihr einjähriges Freiwilliges Soziales Jahr hinter sich gebracht haben. Die Chefin mochte die Kleine mit den flammrot gefärbten Haaren, obwohl sie häufig zu spät kam und so schusslig war, wie ein chronisch unglücklich verliebter Teenager nur sein konnte. Sie war sehr fürsorglich, freundlich zu den Heimbewohnern und machte ihre kleinen Missgeschicke mit ihrem Charme wieder wett.
    „Frau Sausele ist gestorben“, informierte Irene sie, sichtbar betroffen. Renate wurde sich jetzt erst bewusst, dass Anna sie irritiert angesehen hatte. Wohl wegen des ungewohnten Schweigens nach ihrer Begrüßung.
    „Ach“, ließ Anna verlauten, sich offenbar nicht sicher, ob sie die Nachricht als eine gute oder eine schlechte werten sollte.
    „Gerichtet ist sie noch nicht?“, fragte Renate vorsichtig und blickte zu Kevin.
    „Bin leider nicht mehr dazu gekommen, sie zu waschen“, musste er eingestehen. „Ich hab ihr nur die Augen geschlossen und das Kinn hochgebunden.“
    „Das kann man ja nicht auch noch von der Nachtwache verlangen“, verteidigte Irene ihn unnötigerweise.
    „Das war eine normale Frage, Irene, damit ich uns die Arbeit einteilen kann“, erwiderte Renate und seufzte: „Ich wasch sie dann.“ Sie zögerte kurz und fügte hinzu: „Wer hilft mir?“
    „Ich kann das nicht“, rief Anna und hielt sich abwehrend die Hände vors Gesicht.
    „Musst du auch nicht“, stand ihr Irene bei. „Ich helfe dir, Renate“, bot sie der Stationsleiterin an. „Kein Problem.“
    Renate nickte, war aber noch nicht ganz zufrieden. „Sie sollte noch vor dem Frühstück gerichtet sein. Wenn der Chef den Sohn angerufen hat, wird der sicher gleich vorbeikommen und sie sehen wollen“, gab sie zu bedenken.
    Larissa drehte den Kopf zur Tafel mit dem Pflegeplan für den Tag, die schräg über ihr an der Wand hing. „Ich nehme dir dann jemanden zum Waschen ab. Frau Ziehmer, ist das okay, Renate?“
    Auch die Stationsleiterin studierte nun den Plan und nickte wieder. „Das wäre nett. Ich helfe nachher Irene bei der Büchler. Am besten du machst die Ziehmer zwischen Auerbach und Beckmann.“
    „Ach was, ich schaff das schon“ erklärte Irene.
    Jetzt fühlte sich auch Anna, sichtlich lustlos, verpflichtet ein Hilfsangebot machen: „Wen kann ich euch noch abnehmen?“ Sie drehte sich kurz symbolisch zur Tafel über ihrem Kopf um.
    „Mach du mal deine Leute, wir kommen schon zurecht“, entgegnete Renate und sah Anna erleichtert aufatmen.
    „Also ich geh dann mal.“ Kevin erhob sich. „Ich wünsche euch trotz allem noch einen schönen Tag“, lächelte er müde. „Und bis Donnerstag. Dann ruft mich des Dienstes immer gleichgestellte Uhr wieder früh um sechs aus dem Nest und ich darf endlich wieder zu euch stoßen.“
    Irene sang langgezogen: „Ach, schön!“
    „Das war von Schiller“, ergänzte Kevin für Anna, weil die verständnislos den Kopf schüttelte. „Friedrich Schiller – schon mal gehört?“
    Anna verdrehte die Augen.
    „Und jetzt hast du drei Tage frei, richtig?“, fragte die Chefin.
    „Na, sagen wir mal zweieinhalb. Den heutigen werde ich ja zur Hälfte verschlafen. Also, macht's gut, Leute.“
    Ungewohnt schnell war er aus in der Tür.
    „Bis Donnerstag! Und erhol dich!“, rief Renate ihm noch hinterher. Ihr schien es, als habe er heute geradezu unter Strom gestanden. Bei den vergangenen neun Übergaben frühmorgens, war ihm kein Zeichen von Übermüdung anzumerken gewesen. Nichts hatte auf Probleme durch die Umstellung auf den Nachtdienst hingedeutet. Er hatte immer entspannt in seinem Drehstuhl gelümmelt und wie üblich seine Sprüche vom Stapel gelassen. Heute war er eher einsilbig gewesen. Und er hatte eben diese rätselhafte Unruhe an sich gehabt.

    Auch Larissa war aufgefallen, wie blass Kevin aussah und wie nervös er wirkte. Allerdings schrieb sie dies weniger seinem zehnten Nachtdienst in Folge zu. Für sie hatte das ganz klar mit etwas anderem zu tun. Schon am heutigen Morgen hatte sie sich wieder die ganze Zeit den Kopf darüber zerbrochen: Gestern Abend, als Kevin bereits im Heim gewesen war, hatte sie von Betti einen Anruf erhalten. Ihre beste Freundin hatte ihr etwas offenbart, von dem Kevin noch nichts wusste. Und obwohl es so völlig unverhofft nun auch wieder nicht
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