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Graue Schatten

Graue Schatten

Titel: Graue Schatten
Autoren: Peter Nimtsch
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chronisch krank gewesen. Andererseits nicht todkrank. Und sie hatte nichts Akutes gehabt. Zumindest gestern Nachmittag noch nicht. Eine Sepsis hatte Dr. Hansen erst für den Fall prophezeit, dass sie die Operation bis ins nächste Jahr hinauszögerte.
    Und nun war sie noch nicht mal achtzig geworden. Der Neunundsiebzigste war letzten Sommer gewesen. Als sie vor acht Jahren im Betreuten Wohnen eingezogen war, hatte sie noch vor Unternehmungslust gesprüht. Aber als sie nach einem Krankenhausaufenthalt auf die Pflegestation kam, war sie um Jahre gealtert. Ihr Diabetes, die offenen Füße und die starken Schmerzen – zuerst beim Laufen, später auch im Liegen – all das hatte sie verändert. Mäklig und unzufrieden war sie geworden. Bis sie endlich das Einzelzimmer bekam, hatte sie ständig Streit mit den Zimmergenossinnen.
    Als die Diagnose Arterielle Verschlusskrankheit feststand, war es bei ihr endgültig mit dem Lebensmut vorbei. Ihr Zimmer verließ sie kaum noch. Ihre einzigen Freuden waren Kuchen und andere süße Sachen.
    In letzter Zeit musste sie täglich Schmerztabletten einnehmen, in immer höheren Dosen. Und sie war inzwischen so schwierig im Umgang geworden, dass jeder Mitarbeiter auf der Station froh war, wenn sie jemand anderes waschen musste. Die Zeit, die der Gesetzgeber ihnen laut Pflegestufe für die tägliche Pflege und Fürsorge der Frau zugestand, wurde erheblich überzogen. Das Schildchen, das die Pflegezeit anzeigte, an der Tafel, auf der jeder nachlesen konnte, was er an diesem Tag zu tun hatte, war doppelt so lang, als es eigentlich sein durfte.
    Renate schaute zu der schwarzen Pinnwand, gegenüber. Das Schildchen der Verstorbenen steckte noch. Sie beschloss, es gleich stecken zu lassen, denn waschen musste man sie trotzdem. Und am besten ging man gleich zu zweit rein, kalkulierte sie. Natürlich würde man nicht so fix und fertig aus ihrem Zimmer kommen, wie sonst, wenn man sie morgens versorgt hatte.
    Erneut musste die Chefin an die Kämpfe mit ihrem kleinen Monster denken. Die Frau bewegte beim Waschen und Anziehen meistens keinen Finger, jammerte und nörgelte dafür aber ständig. Körperlich wäre sie aber durchaus noch in der Lage gewesen, vieles von dem selber zu tun, was sie gewöhnlich auf das Pflegepersonal abschob, unablässig ihr Leiden hervorhebend. Wenn man sie zu erziehen versuchte und sie das, was sie laut Medizinischem Dienst der Krankenkassen noch selber konnte, selber tun ließ, passierte es, dass sie eine Woche lang nicht gewaschen war. Und dann kam prompt die Beschwerde: So viel Geld müsse sie zahlen und keiner kümmere sich um sie!
    Ihr Leiden hatte sie störrisch, boshaft und hinterhältig werden lassen, resümierte Renate. Na ja, vorbei! Und trotzdem: Keiner hatte damit gerechnet, dass sie demnächst sterben würde. Das Sprichwort vom Unkraut, das nie vergehe, erwies sich wieder einmal als falsch.
    So schnell kann's gehen, hatte Kevin vorhin gemeint. So als wollte er sagen, er habe schon immer gewusst, dass sie's nicht mehr lange machte.
    Er war wohl jetzt endlich so weit mit seiner Dokumentation. Gerade hängte er den letzten Ordner zurück in den Aktenwagen.
    „Also dann, erzähl mal.“ Nun wollte sie aber doch Genaueres wissen.
    In dem Moment, als Kevin sich wohl seine ersten Worte zurechtlegte, hörten die beiden Geschnatter und Gelächter von draußen, aus Richtung des Aufzuges. Sie tauschten einen wissenden Blick aus: Das war Irene, die mit einer weiteren Pflegerin soeben vom Treppenhaus aus die Station betreten hatte. Wie immer versuchte sie vergeblich, den noch schlafenden Bewohnern zuliebe ihre Stimme zu dämpfen.
    Die beiden im Schwesternzimmer hatten sich wortlos verständigt noch zwei Schluck Kaffee lang zu warten. Als Kevin seine Tasse zum Mund führte, bemerkte Renate ein ganz leichtes Zittern bei ihm.
    Zusammen mit der bereits identifizierten Person betrat Larissa den Raum. Irene begrüßte wie immer lachend und plappernd die Chefin und Kevin, während sich Larissa kurz zu Kevin herunterbeugte und ihm wie gewohnt ein Küsschen auf jede Wange hauchte.
    „Frau Sausele ist gestorben“, offenbarte Renate den beiden, während sie sich setzten.
    „Frau Sausele?“ Irene schnitt eine erstaunte Grimasse. Larissa schaute nur Kevin an und schwieg.
    „Frau Sausele“, bestätigte der Krankenpfleger. „Sie ist einfach eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.“ Er strich sich dabei nervös über seine Stoppelhaarfrisur, sah Renate an und fuhr fort: „Gegen
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