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Graue Schatten

Graue Schatten

Titel: Graue Schatten
Autoren: Peter Nimtsch
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halb eins hab ich sie das letzte Mal gelagert. Da hat sie fest geschlafen. Sie ist nicht mal so richtig wachgeworden, als ich ihre Einlage gewechselt habe.“
    „Ist ja auch kein Wunder, bei der Dröhnung“, quakte Irene.
    „Irene!“ Renate schüttelte den Kopf. „Das Thema haben wir gestern ausreichend diskutiert. Jetzt lass mal Kevin fertig erzählen.“ Sie wusste, dass eigentlich alle so wie Irene dachten, nur behielten sie es im Gegensatz zu ihr für sich.
    „Na ja ...“ Kevin kratzte sich merkwürdig fahrig am unrasierten Kinn. „Als ich um halb drei wieder reinging, lag sie mit offenem Mund da und hat nicht mehr geschnauft. Am Hals konnte ich keinen Puls mehr fühlen. Ich habe gleich Dr. Frischauf angerufen. Der war innerhalb von dreißig Minuten da und hat das Gleiche wie ich festgestellt: Exitus. Die Todesursache hast du ja gelesen, Renate.“
    Die Chefin nickte. „Herzversagen“, teilte sie nachdenklich den beiden Neuankömmlingen mit.
    Wieder herrschte einen langen Augenblick betretene Stille im Stationszimmer, so als hätten alle eine Gedenkminute eingelegt.
    „Und was denkst du, Kevin?“ Renate durchbohrte den drahtigen Krankenpfleger geradezu mit ihrem Blick. Was sie nun indirekt gefragt und worauf Irene vorhin angespielt hatte, was wohl aber keiner aussprechen wollte, war: Hatte Frau Sauseles Tod mit einer gewissen Begebenheit des gestrigen Tages zu tun?
    „Was ich denke?“ Kevin blickte Renate nur kurz an, dann lehnte er sich in seinem Drehstuhl zurück. „Meine Meinung ist bekannt und hat sich nicht geändert.“
    Wieder sagte keiner etwas, nicht einmal Irene.
    Schlau ausgewichen, erkannte Renate leicht verärgert. Kevin hatte damit nichts darüber verraten, was er von Sauseles Herzversagen hielt. Beziehungsweise davon, ob ihr Tod vielleicht doch eher etwas mit der Extradosis Morphium zu tun haben könnte, die ihr Dr. Hansen gestern Nachmittag gespritzt hatte. Das war es eigentlich, was sie von ihm wissen wollte, und das wusste er. Dass sich Kevins Meinung in diesem Punkt von Renates beträchtlich unterschied, daran brauchte er sie nicht zu erinnern.
    „Der Herr Doktor wird schon gewusst haben, was er macht“, seufzte sie ironisch.
    „In dem Fall schon“, stimmte Kevin zu.
    Die Stationsleiterin schaute in die Runde: Die anderen zwei wussten Bescheid. Kevin hatte damit nun doch etwas darüber verraten, wie er über Marta Sauseles Todesursache dachte.
    Renate musste sich eingestehen, dass sie sich mit Opiaten in der Palliativmedizin noch nicht so gründlich beschäftigt hatte wie Kevin. Bevor das Schmerzproblem bei Frau Sausele dermaßen akut wurde, hatte sie nur mit Bewohnern zu tun gehabt, deren Hausärzte chronische Schmerzen ihrer Patienten mit niedrigen Dosierungen in den Griff bekamen. Aber Betäubungsmittel waren ihr nun mal an sich suspekt.
    Und in den Händen von Dr. Hansen schon zweimal.
    Sie hatte das Gefühl, dass er zu großzügig damit umging. Morphium machte süchtig. Man brauchte immer mehr davon. Und wie viel hätte Frau Sausele in ein oder zwei Jahren einnehmen müssen, damit es noch wirkte? Renate hatte sich dafür eingesetzt, dass sie zu einem Schmerztherapeuten überwiesen würde. Aber Hansen meinte, das bis zur bevorstehenden OP selber hinzukriegen. Und danach, so glaubte er, würden die Schmerzen sich wohl fürs Erste auf ein für sie erträgliches Minimum reduziert haben.
    Auch Kevin stand Dr. Hansen kritisch gegenüber; was die Schmerzbehandlung von Frau Sausele betraf, prallten seine und Renates Ansichten allerdings frontal aufeinander. Dem Krankenpfleger waren die Dosierungen eher noch zu gering. Auch jetzt schien er daran nicht zu zweifeln. Er schaute sie nun wieder mit seinem gewohnt selbstsicheren, ein wenig arroganten Blick an.
    Dennoch, etwas stimmte mit ihm nicht. Es schien Renate, als müsste er sich anstrengen, so locker wie sonst zu wirken. Er war zweifellos sehr angespannt. Die Stationsleiterin bemerkte wieder dieses leichte Zittern und ein nervöses Zucken. Es fiel nur dem auf, der ihn lange genug kannte und besonders aufmerksam hinsah. Vielleicht hatte er sich doch noch nicht an den umgekehrten Tagesrhythmus gewöhnt und zu wenig geschlafen.
    Sie wollte ihn gerade darauf ansprechen, als sich Anna hereinschlich. Keiner hatte sie kommen gehört, bevor sie den Raum betrat.
    „Morgen“, säuselte sie und fügte routiniert hinzu: „Schuldigung. Bin n’ bisschen spät.“
    Die vier Anwesenden begrüßten die Achtzehnjährige so, als wäre es
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