Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Grafeneck

Titel: Grafeneck
Autoren: Rainer Gross
Vom Netzwerk:
das haben wir dann erfahren. Einfach abhauen, die ganzen Unterlagen vernichten, und weg. Da hat sich dein Vater gesagt: Die sollen nicht so davonkommen.«
    »Und dann ist er hergegangen und hat den Schumacher erschossen?«
    »Hingerichtet haben sie den.«
    Mauser pfeift leise durch die Zähne.
    »Das hätt ich ihm nicht zugetraut.«
    »Denk dran, was sie mit Mutz gemacht haben. Und deine Mutter, die sich erhängt hat …«
    »Das brauchst mir nicht zu sagen. Hab gedacht, daß er es hingenommen hat. Daß er mit dem Unrecht gelebt hat. Statt dessen hat er selber … den Grat überschritten …«
    Waltz klopft ihm auf die Schulter und beugt sich vertraulich her. »Ob er’s war, weiß man ja nicht. Die waren zu dritt. Und wenn schon – er ist tot. Keiner kann mehr was von ihm wollen.«
    Mauser hat plötzlich Tränen in den Augen. Der Albtraum ist vorüber: Er muß seinen Vater nicht mehr für einen Nazi und einen Behindertenmörder halten. Statt dessen sieht er ihn vor sich, in seiner Uniform, mit der Koppel um den Bauch, wütend und hilflos und bereit, sein Ideal zu verraten. Ratlos, weil sich Recht und Unrecht nicht mehr scheiden lassen. Allein, Mutter ist tot, niemand da, der ihm raten kann. Aber er war immer allein damit, immer mußte er selber den richtigen Weg finden. Und dann rückt das Kriegsende näher, und in Grafeneck ziehen sie den Schwanz ein und wollen sich davonmachen. Ein letztes Mal qualmt es, die Öfen brennen von den Unterlagen, Autos fahren vor und verladen das Mobiliar, das bleibt nicht verborgen.
    »Zu dritt waren sie, sagst?« fragt Mauser und läßt seinen Tränen freien Lauf. Seine Lippe zittert, er schluckt. So hat ihn Waltz noch nie erlebt.
    »Soviel ich weiß«, sagt Waltz. Er schaut sich noch einmal in der Stube um. Das ist eigentlich nicht der richtige Ort für so ein Gespräch. Ständig ist er am Überlegen, wie viel er Mauser erzählen soll. Irgendwann muß das Ganze heraus, das ist sicher, aber es muß der richtige Moment dafür sein.
     
    Greving setzt sich neben Mattes auf die Bank, die neben der Haustür steht. Mattes hat seinen Hut abgenommen, ein braunes Cordding, das er in den Händen knautscht. Greving wartet geduldig.
    »Wissen Sie«, beginnt Mattes, »ich habe das damals gemacht und mir nicht viel dabei gedacht. Wie sie dahergekommen sind und wir die Busfenster weiß anmalen mußten, da habe ich noch nichts geahnt. Ich weiß selber nicht …«
    Mattes dreht und biegt sein Hütchen in den Händen, schaut auf seine groben Schuhe, an denen Erde klebt. Klaubt mit einer Hand Steinchen aus den Sohlen. Schaut dann auf und blickt über die Straße hinweg auf das Nachbarhaus.
    »Eigentlich sollte ich Ihnen das lieber drinnen erzählen«, fährt er fort. »Aber meine Frau weiß nichts davon. Glaube ich jedenfalls. Sie hat’s damals nicht erfahren.«
    »Erzählen Sie es ruhig hier draußen.«
    »Wissen Sie, der Mauser hat schon recht gehabt. Ich bin schuld. Es ist eine Schuld, mit der man immer gelebt hat.«
    »Dann hat sie Mauser deswegen mit der Waffe bedroht?«
    Mattes nickt. »Er wollte, daß ich’s endlich zugebe.
    Und er hat recht. Einmal muß es raus. Ich sag’s Ihnen jetzt, weil Sie sind ja von der Polizei. Ich habe die grauen Busse gefahren, ich habe gewußt, früher als alle anderen, was in Grafeneck vor sich geht. Ich habe zugesehen, wie die Behinderten verfrachtet worden sind. Ich bin dabei gewesen, wie die sie von daheim abgeholt haben. Wie die sie oben …«
    Mattes räuspert sich und senkt den Kopf.
    Greving nickt. »Die Schuld frißt an einem. Das kann ich gut verstehen.«
    »Ich habe mich mitschuldig gemacht. Deshalb wollte ich von der ganzen Zeit nichts mehr wissen. Fünfzig Jahre ist es gut gegangen. Und jetzt wird so eine Leich in einer Höhle gefunden, und alles kommt raus.«
    »Sie kennen den Toten.«
    »Erst jetzt, wo Sie mir das Bild zeigen, Herr Kommissar. Erst jetzt.«
    »Können Sie mir den Namen nennen?«
    Mattes räuspert sich noch einmal, er kann kaum sprechen. »Das ist der Leiter. Schumacher hat er geheißen. Dr. Jürgen Schumacher. Der Leiter von Grafeneck.«
    Greving zieht die Augenbrauen hoch. Damit hat er nicht gerechnet. Das ist also das Krumme an dieser Geschichte. Die Ecke, um die es geht. Jetzt ist er daran, um diese Ecke zu schauen und den Weg zu sehen, der zur Auflösung führt.
    »Und weshalb trägt die Leiche dann ein Kreidekreuz auf dem Rücken? Das war doch den Behinderten vorbehalten?«
    Mattes zuckt die Schultern. »Das weiß ich nicht.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher