Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Gottesdienst

Titel: Gottesdienst
Autoren: M Gardiner
Vom Netzwerk:
Kühlschranktür hing eine Zeichnung. Schrein Nummer zwei. Es war ein Porträt von Peter Wyoming. Ich lehnte meinen Kopf gegen das Fenster. Anscheinend war Tabitha zurückgekehrt – und zwar im doppelten Sinn.
    In meinem Wagen nahm ich mir noch einmal das Flugblatt der Standhaften vor. Wie ich mir schon dachte, hatte sein Auftreten bei Claudines Beerdigung den Hass von Peter Wyoming noch lange nicht gestillt. Er hatte alle »anständig denkenden Christen« eingeladen, an diesem Abend noch einmal Zeugnis abzulegen. Ich blickte auf die Uhr. Wyoming war gerade dabei, sich warm zu reden. Ich ließ den Wagen an und machte mich auf den Weg – den langen Weg in die Hölle.

2. Kapitel
    Peter Wyomings Kirche lag verkehrsgünstig an einer Straße in der Innenstadt. Ursprünglich hatte das Gebäude einen Möbelladen beherbergt. Durch die Schaufenster konnte ich im Licht der Neonröhren etwa hundert Menschen ausmachen, die sich auf Klappstühlen in den kahlen Verkaufsraum gezwängt hatten. Ich konnte den Rhythmus eines Klaviers und eines E-Basses durch das Glas spüren – ein pulsierender Beat, der eine beunruhigende Energie ausstrahlte.
    Als ich die Eingangstür aufdrückte, schlugen mir die Musik und die Hitze entgegen. Die Luft stank nach Schweiß und inbrünstigem Eifer. Die Wärme brachte die Stiernacken der Männer zum Glänzen, Frauen fächelten sich mit bunten Bibelbroschüren Luft zu. Auf einer improvisierten Bühne stand in scharlachroten Gewändern ein Chor und besang entschlossen das Blut des Lamms. Vor ihnen tanzten drei Majoretten, Mädchen im Teenageralter in silbernen Fransenkostümen, die ihre Sprünge und Stabübungen mit der Präzision von Kampfsportlerinnen darboten.
    Ich schnappte mir ein fotokopiertes Blatt mit Liedtexten, platzierte mich in der Nähe der Tür und hielt Ausschau nach Tabitha. Aber ich sah nur Menschen, die alle wie mit der gleichen Schablone ausgeschnitten wirkten: die Frauen, auf deren Köpfen sich Dauerwellen türmten, trugen Röcke, die Männer Jeans, Stiefel und Bürstenschnitt. Ich bewegte mich hinüber zum Fenster und versuchte möglichst unauffällig zu wirken.
    Im nächsten Moment trat eine Frau aus dem Chor vor, um ein Solo zu singen. Sie war stämmig, hatte kieselgraue Augen und einen lehmbraunen Zopf, der ihr wie ein Seil über den Rücken hing. Mit kreischender Altstimme erinnerte sie uns daran, dass Gottes Armeen die Sünder niederstrecken würden.
    »Mäht sie nieder«, sang sie, »diese Huren und Schwulen!«
    »Mäht sie nieder«, fiel die Gemeinde ein, »ihre Tränen kommen zu spät!«
    »Hey, ihr Feministinnen und Liberalen, dieses Mal lassen wir die Bibel sprechen, wir holen uns die Straße auf tausend Jahre zurück!«
    Anfeuerungsrufe aus der Menge wurden laut, die Majorettenstäbe flogen durch die Luft wie glitzernde Nunchakus. Die Solistin röhrte: »Es ist so weit, Leute! Lasst mich eure Hände sehen! Lassen wir die Bibel sprechen mit Pastor Pete!« Die Gemeinde applaudierte, die Majoretten landeten im Spagat, und Peter Wyoming betrat die Bühne.
    Er schien vor Energie zu vibrieren, sein Gesicht war gerötet, der Bürstenschnitt glänzte. Er führte ein Mikrofon an seine Lippen. »Lassen wir die Bibel sprechen! Jawohl! Lassen wir sie hier in Santa Barbara sprechen«, schrie er. »Lassen wir diese Aids-Krüppel wissen, was Gott mit ihnen vorhat!«
    Das Stampfen und Johlen wurde lauter. Er warf den Versammelten ein verschwörerisches Lächeln zu. »Und wir haben unseren Spaß dabei, oder nicht? Es geht doch nichts über einen Gemeindeausflug an der frischen Luft. Vor allem wenn man dabei noch ein paar Huren zur Rechenschaft ziehen kann.«
    Er ließ das begeisterte Geschrei und Gelächter noch eine Minute andauern, bevor er die Hand hob.
    »Aber jetzt müssen wir zurück an die Arbeit. Denn Aids ist nur die Spitze des Eisbergs, der sich aus der Gosse erhebt.« Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Und diese Flutwelle der Verkommenheit ist ein Zeichen – ein Zeichen, dass die letzten Tagen näherrücken.«
    Schmalz mit einer kräftigen Prise Schwefel. Ich versuchte nicht hinzuhören, weil ich wusste, dass Wyoming mich nur wütend machen würde, und suchte weiter nach Tabitha. Dennoch drang sein Geschwafel zu mir durch. Anspielungen auf die Hölle kamen jetzt im Sekundentakt. Eine Liste der jüngsten Projekte des Satans, von der Evolutionslehre bis zur Halloweenfeier. Und dann der Plan für die bevorstehenden Ereignisse: Unheil, Anarchie und Verdammnis für
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher