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Gottesdienst

Titel: Gottesdienst
Autoren: M Gardiner
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alle, die sich nicht Pastor Petes Panikmache anschließen wollten. Ganz klar: Wir näherten uns dem Weltuntergang. Der Weltuntergang – der große böse Wolf aller Prediger, seit Caligula Rom regiert hatte.
    »Lasst uns nachlesen.« Er schnippte mit den Fingern, und die stämmige Solistin reichte ihm eine abgegriffene Bibel. Er schlug sie auf und begann. »Es werden Erdbeben geschehen hier und dort, es werden Hungersnöte sein. Das ist erst der Anfang der Wehen.«
    Beflissen beugten sich die Gemeindemitglieder vor, Finger fuhren durch die Bibeln auf der Suche nach der richtigen Stelle und erfüllten den Raum mit dem trockenen Rascheln dünnen Papiers. »Aber für euch sind das keine Neuigkeiten. Ihr alle haltet Erdbeben und Hunger zu Hause auf euren Wandtabellen fest, richtig?«
    Eine Frau mit rosafarbener Brille hielt einen Zeitungsausschnitt hoch und schwenkte ihn wie ein Gewinnerlos. »Tausende verhungern in Bangladesch«.
    »Gut«, lobte er und fuhr mit der Endzeit-Checkliste fort: Kriege, falsche Propheten, weit verbreitete Wahnvorstellungen – eine einzige groß angelegte Täuschung. Er machte eine dramatische Pause. »Täuschung!«
    Mit dem Finger tippte er sich gegen die Schläfe. »Seid auf der Hut. Wir leben im Zeitalter der großen Lüge, Freunde, glaubt nicht, was ihr da draußen hört.«
    Und dieses Draußen nahm er sich sogleich als Nächstes vor. Das Gerichtssystem war verlogen, weil es gleichgeschlechtlichen Sex legalisierte und Waffenbesitz reglementierte. Die Naturwissenschaft war eine einzige große Lüge, eine atheistische Verschwörung, um die Bibel mit der Urknalltheorie und der Behauptung, Aids sei durch afrikanische Affen – Affen! – in Umlauf gebracht worden, in Verruf zu bringen. Dabei wusste es doch jeder: Gott persönlich hatte die Seuche über das Bundesgesundheitsamt in Atlanta kommen lassen.
    Er hob die Stimme und legte noch einen Zahn zu. Die katholische Kirche war eine einzige Lüge, nichts als Hexerei. Latein – eine Lüge. Ja, allerdings, Latein war eine heidnische Sprache, die eigentlich längst ausgestorben sein sollte. Aber sie war nicht tot, sie wurde am Leben erhalten als die Sprache des Gesetzes, der Wissenschaft, der Messe und der Hexerei. »Wie viele von euch haben noch nie einen mexikanischen Spieler gesehen, der sich bekreuzigte, damit er einen Homerun bekam? Leute, das ist kein Zufall. Könnt ihr nicht erkennen, dass das alles zusammengehört?«
    Ich spürte, wie es mir kalt den Rücken herunterlief. Ich drehte mich um und bemerkte eine junge Frau, die mich aus der letzten Reihe heraus beobachtete, ein Teenager mit einem runden Puppengesicht. Sie starrte mich an, als ob sie mich von einem Steckbrief her erkannt hätte. Als sich unsere Blicke kreuzten, verzog sie angeekelt den Mund.
    »Und dann natürlich noch Satans größte Lüge – dass die letzten Tage ein Mythos seien. Er setzt all sein teufliches Geschick ein, um das den Leuten weiszumachen.«
    Der Teenager mit dem Puppengesicht flüsterte mit seiner Nachbarin, und jetzt starrten beide zu mir herüber.
    »Die große Pest, Atombomben, Kometen, die die Erde treffen – jedes Mal denken die Leute, jetzt wird es passieren. Und wenn es nicht passiert, sagen sie, schau dir mal diese Idioten an, welcher Schwachkopf glaubt denn überhaupt an den Weltuntergang?« Er hielt inne. »Und dann lehnt sich Satan zurück und lächelt. Weil er es geschafft hat, dass noch mehr Menschen die Warnungen der Bibel ignorieren.«
    Seine beiden Hände schlossen sich jetzt um das Mikrofon. Er hatte die grobe gerötete Haut eines Bergarbeiters. »Aber das Zeitenende ist kein Mythos.« Seine Stimme senkte sich plötzlich zu einem Flüstern. »Der Sturm wird kommen, er wird kommen.«
    Sein Tonfall ließ mich frösteln, und mir wurde noch unwohler in meiner Haut. Eitle Selbstgerechtigkeit hatte ich erwartet, aber nicht, dass sich seine Moralpredigt in die unheimlichen Höhen biblischer Prophezeiungen aufschwingen würde. Wie gelähmt stand ich da, während das Mädchen und seine Freundin weiter tuschelten und mir böse Blicke zuwarfen.
    »Ihr könnt die Zeichen überall sehen«, sagte er. »Der Präsident der Vereinigten Staaten legt seinen Eid inzwischen mit Blick auf das Washington-Monument ab, einen Obelisken der Freimaurer, ein Symbol des Okkulten. Das ist eine Botschaft an den Teufel, die besagt, dass die Regierung bereit ist ihm zu dienen. Amerikanische Soldaten bekommen Anthrax-Impfungen. Erkennt das als Zeichen, dass sie sich auf die
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