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Gottesdienst

Titel: Gottesdienst
Autoren: M Gardiner
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Blatt. Die Navy hatte ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass sie einen Untersuchungsausschuss zu der Sidewinder-Sache einsetzen wollten. Seine Zukunftsaussichten als Offizier und Flieger waren ziemlich trübe.
    Doch Brian sagte, das sei es ihm wert gewesen, jedes bisschen davon, selbst falls er nie wieder eine F/A-18 fliegen durfte. Luke war in Sicherheit. Brian bereute nichts. Und ich nahm ihm das ab. Trotzdem wirkte er nicht mehr wie der Mann, der er einmal war; und das lag nicht nur an seinen Verletzungen.
    Die Trauer hatte ihm zugesetzt. Trotz Tabithas Treulosigkeit und ihrer verhängnisvollen Taten trauerte er um ihre Leidenschaft, ihre Schönheit und ihre Tapferkeit. In dem Wissen, dass sie in ihren letzten Lebensmomenten Luke den Fels hochgehoben und ihn damit gerettet hatte, quälte er sich nun damit, dass er ihren Tod nicht hatte verhindern können. Er lag hilflos im Bett, den Blick ins Leere gerichtet, und durchlebte wieder und wieder diese letzten Minuten in der Hütte, in Gedanken bei Ereignissen, die er nicht mehr ändern konnte: Wenn ich mich früher auf Paxton gestürzt hätte. Vielleicht nur eine Sekunde früher. Einen Wimpernschlag schneller, dann hätte ich ihm die Schrotflinte entreißen können. Ich hätte alles da und dort zu Ende bringen können.
    Wenn, ja, wenn …
    Mir gelang es nicht, ihn aus seinen Gedanken zu reißen, genauso wenig wie es unseren Eltern gelang. Schließlich führte Jesse ein langes Gespräch mit ihm. Noch vor einem Monat hätte er ihm nicht zugehört, nun war Jesse der einzige Mann, der wusste, wovon er redete. Nicht weil er ihn mit dem Auto gerettet hatte, sondern weil er etwas über schicksalshafte Zufälle wusste und den nicht wiedergutzumachenden Schaden, den sie anrichten konnten. Er sprach mit Brian über die unabänderlichen Tatsachen des Lebens, dass der Tod die Person neben einem mitnimmt und einen selbst am Leben und so traumatisiert zurücklässt, dass man es schier nicht erträgt. Er erzählte ihm, dass es sinnlos war, in Erinnerungen zu schwelgen, dass man lernen musste, das Geschehene zu akzeptieren. Vielleicht werden seine Worte eines Tages zu Brian durchdringen.
    Jesse musste an seinem gebrochenen Bein operiert werden. Er bekam noch mehr Nägel in jene Knochen, die ohnehin schon sämtliche Metalldetektoren am Flughafen anschlagen ließen. Seine schwere Nierenentzündung und Dehydrierung mussten behandelt werden. Nach zwei Tagen entließ er sich selbst mit der Begründung, dass er Krankenhäuser noch mehr hasste als Aufenthalte in Atombunkern – wo obendrein das Essen besser gewesen sei.
    Danach zog er bei mir ein. Er erklärte mir, dass ich aufhören müsste, mich fertigzumachen, und dass ich zu viel Gewicht verloren hätte. Er liegt neben mir, wenn ich schweißgebadet aufwache. In meinem Albtraum greife ich immer wieder nach Tabithas Hand, spüre, wie ihre Finger meine berühren, als sie sich an der Felswand nach oben streckt. Ihre Haut fühlt sich an wie elektrisch geladene Seide. Ihre Augen sind schwarz und unendlich tief, voller Selbstsicherheit und Vertrauen in mich. Und dann stürzt der Baum um und verwandelt sich in den Schwanz eines Drachens, lässt Funken aufstieben, wie Sterne am Himmel, und reißt Tabitha mit sich fort. Wenn ich schreiend aufwache, nimmt mich Jesse in seine Arme. Manchmal lieben wir uns wie zwei hungrige Menschen, die sich mithilfe ihrer Körper vergewissern müssen, dass sie noch am Leben sind.
    Dann wieder liegt Jesse da und starrt aus dem Fenster. Er hat seinen eigenen Dämonen, der sich anfühlt wie der Abzug einer Pistole und sich anhört wie ein Schuss.
    Als ich das letzte Mal meinen Albtraum hatte, sagte Jesse: »Du solltest damit zu einem Priester gehen.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Er hatte keinen Priester.
    Ich legte meine Hand an seine Wange. »Und vielleicht solltest du mit Brian reden.«
    Er nahm eine Flasche mit ins Krankenhaus.
     
    Solange Brian noch nicht wieder auf den Beinen war, wohnte auch Luke bei mir. Luke hatte noch einen weiten Weg vor sich, aber zumindest war er nicht wieder in die Phase zurückgefallen, in der er sich im Wandschrank versteckte. Er hatte wieder angefangen in die Schule zu gehen und besuchte regelmäßig einen Kinderpsychologen, der ihm half, mit Tabithas Tod und dem Trauma der Gefangenschaft bei den Standhaften umgehen zu lernen.
    Akzeptieren zu lernen ist nicht leicht. Aber Unsicherheit ist teuflisch. Und ich muss mit der Unsicherheit leben: Die Ampulle mit der Substanz, die
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