Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Titel: Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
Autoren: Peter Ustinov
Vom Netzwerk:
ihn sich machen zu können. Dies waren die Nächte des langsamen Auftauens. Allmählich wagte er zu denken. Irgendwann wagte er sogar zu zweifeln. Es war wie die langsame, schmerzhafte Genesung nach einem Unfall, einem Unfall des Gemüts.
    Eines Tages, als er bereit war, zog er Bilanz. Er glaubte einen entfernten Vetter in Amerika zu haben. Amerika – die Symphonie Aus der Neuen Welt, Dvorak –, wo Tschechen nach der Verfassung Tschechen sein durften. Bei genauerer Betrachtung war es ihm gleich, ob er Tscheche war oder nicht. Er wollte nur leben und vielleicht einen Grund dafür finden, kein Pessimist zu sein. Er sehnte sich nach einem Ort völlig ohne Traditionen, nach einem Ausbruch aus dem Tollhaus Mitteleuropa.
    Eine zufällig bei der Arbeit aufgeschnappte Bemerkung brachte ihn auf die Idee mit Australien. Es gab eine Landkarte an der Wand im Büro des Direktors, übersät mit kleinen Fähnchen, die solche Gebiete kennzeichneten, wo die Würste sich gut verkauften.
    Bulgarien schien ausschließlich von Wurst zu leben, falls man der Landkarte trauen konnte. Ungarn machte eher seine eigenen Würste, aber Griechenland und die Türkei mußten überraschend gute Absatzmärkte sein. Unten rechts, in eine Ecke gequetscht, lag Australien, jungfräuliches Land, ohne tschechische Wurst innerhalb seiner Grenzen, geheimnisvoll und weit entfernt von dem Alptraum. In seiner Mitte schien es meilenweit keine Stadt zu geben. Dies war der Platz für ihn. Nachts pflegte er im Büro des Direktors zu sitzen, diese riesige Insel auf der Landkarte anzustarren und sich die Gegend im Innern vorzustellen, unerschlossen, brach. Dort, wo es keine Menschen gab, würde es auch keine Unmenschlichkeit geben.
    Eines Tages wußte er instinktiv, daß der Augenblick für die große Wanderung gekommen war. Es wäre unnatürlich gewesen, hätte er nach seinen Erfahrungen nicht ein Gefühl für drohende Katastrophen entwickelt, und jetzt erkannte er, daß es keine Zeit zu verlieren gab. Vier Tage nachdem er die österreichische Grenze überschritten hatte, kamen die Kommunisten in der Tschechoslowakei an die Macht, und wieder traten Parolen an die Stelle von Gesprächen.
    Vom Internationalen Flüchtlingskomitee in Wien erfuhr Jiri, daß bei mehreren Wasserkraftwerken im Hochland von South New Wales dringend Arbeiter benötigt wurden. Binnen zwei Wochen befand er sich an Bord des italienischen Dampfers Salvatore Rosa, mit Kurs auf Suez und die Freiheit. Die See war ruhig und freundlich, und er stand an Deck, eine etwas lächerliche Erscheinung in einem unförmigen Hemd ohne Kragen, die auf das goldene Wasser starrte, als sei es ein Feuer, der passende Hintergrund für seine Phantasie. Aber er träumte gar nicht, denn er hatte nichts, wovon er träumen konnte. Er besaß keinerlei Vorstellung von dem Unbekannten. Selbst in jenem Büro, als er die leere Landkarte anstarrte, hatte er nur an die Leere gedacht, nicht an vorstellbare Landschaften. Die Realität war zu grausam gewesen, als daß er sie je hätte ignorieren können, selbst wenn er ihr entfloh. Die Sonne hatte noch nie so heiß geschienen, und sie bewirkte eine köstliche Schläfrigkeit, ein sinnliches Gefühl des Wohlbefindens, wie Hunde es zum Ausdruck bringen, wenn sie eine besonders gemütliche Vertiefung am Boden finden und müde blinzelnd darauf warten, daß der Schlaf sie überwältigt. Jifi war glücklicher als jemals zuvor. Gleichzeitig konnte er nie seine Ärmel aufkrempeln, wegen dieser auf seinen Arm eingebrannten Nummer, einem Überbleibsel der vergangenen Nazi-Herrschaft.
    Er sprach nicht mit den anderen Auswanderern. Es gab Italiener, Ungarn, Deutsche, man konnte nie wissen, wer nun wer sei. Besser, den Mund halten. Wenn er mit jemandem zusammenstieß, entschuldigte er sich unhörbar, oder wenn ein Passagier ihm eine der schweren Türen aufhielt, murmelte er tonlos seinen Dank. Am allerwenigsten wünschte er mit anderen Tschechen zusammenzutreffen und sich in all dem öden Jammer zu ergehen, dem verfrühten Heimweh schwächerer Naturen, die das Gewohnte hinter sich lassen. Er wollte allein sein.
    In Aden kaufte er sich ein albernes schwarzes Kissen, sein erster Kauf seit Jahren. Aufgestickt waren, in abwechselnd irisierenden oder gelbstichigen Farben, ein schneebedeckter Berggipfel und sein Spiegelbild in einem unbestimmbaren Gewässer, ein Minarett und eine Fichte auf einem Hügel.
    »Souvenir aus Aden«. Er hatte angefangen, sich ein Zuhause aufzubauen.
    Sydney war viel
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher