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Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Titel: Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
Autoren: Peter Ustinov
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verborgenen Freuden können in anderen, offeneren Gegenden nicht in vergleichbarer Art entstehen, und doch scheinen seine strengen Regeln auf festen Fundamenten der Bigotterie erbaut und seine Handlungsweisen einer uralten Dummheit zu gehorchen. Alle zwanzig Jahre etwa, auf einen Trompetenstoß hin, der so beiläufig ertönt wie das Schlagen einer Uhr, will es der Brauch, daß gesunde Männer zum Bahnhof ziehen und dann, inmitten eines Meeres trauriger weißer Taschentücher und beim Schmettern martialischer Musik aus krächzenden Lautsprechern, zur Grenze aufbrechen. Welche Grenze? Jede Grenze, denn sie wechseln wie die Gezeiten; Politiker nennen sie historisch, Generale nennen sie strategisch, einfache Menschen nennen sie ein verdammtes Ärgernis. Jifi Polovicka war es leid. Er war es 1939 leid gewesen, und jetzt war er es erst recht. Geboren 1904 als Sohn eines tschechischen Vaters und einer slowakischen Mutter, hatte er sich nach Ende des Ersten Weltkriegs als ungarischer Staatsbürger wiedergefunden – aus keinem anderen Grund als jenem, daß sein Vater sich auf der falschen Seite eines Flusses niedergelassen hatte. Schließlich beschloß der alte Herr Polovicka, in sein Mutterland zurückzukehren, denn Minderheiten haben ihre Probleme in Mitteleuropa. Von dem Wunsch geleitet, sich so weit von Ungarn zu entfernen, wie es die etwas sonderbare Geographie der Tschechoslowakei erlaubte, eröffnete er ein kleines Lebensmittelgeschäft in Teschen, einer Bergwerkstadt an der polnischen Grenze. Das Leben war relativ ruhig, bis zu den Unruhen der späten Dreißiger, als die ganze Familie Polovicka über Nacht polnisch wurde. Da ihr ganzes Kapital in der fraglichen Stadt investiert war, war es ihnen wirtschaftlich unmöglich, erneut auszuwandern. Was Patrioten auch immer sagen mögen bei der Enthüllung von Statuen – die Drohung des Hungers ist ein stärkeres Argument als abstrakte Gefühle der Zugehörigkeit. Alsbald hatte Hitler ohnehin all diese höheren Gefühle zu einem Unfug gemacht, und Jifi war noch keine zwei Tage in der polnischen Armee gewesen, als er sich schon als Kriegsgefangener inmitten von Leuten wiederfand, deren Sprache er nur mühsam verstand, und wo er reichliche Unannehmlichkeiten unter der Willkür der Herrenrasse auszustehen hatte.
    Ein Arbeitseinsatz zum Kartoffelbuddeln für einen freundlichen schlesischen Bauern wurde durch das Angebot unterbrochen, in eine böhmisch-mährische Brigade einzutreten, dazu bestimmt, die Lücken der Ostfront aufzufüllen, wenn die Stunde dazu käme. Als er dieses Angebot mit großer Höflichkeit ablehnte, faßte die deutsche Regierung dies als persönlichen Affront auf, und Jifi wurde auf einen Besuch nach Ravensburg geschickt, der nach nur sechs Monaten endete, als er nach Auschwitz überstellt wurde. Die Gestapo gab ihm zu verstehen, daß sie seine Maskerade als Pole für einen vorsätzlichen Täuschungsversuch ansah, und erklärte, daß er als Tscheche nunmehr unter dem Protektorat des Reiches stünde und seine Meldung bei einem ausländischen Heer nichts anderes gewesen sei als Verrat.
    Zu seinem Glück brauchte man mehrere Jahre, um das genaue Ausmaß seines Verrats zu bestimmen, und so überlebte er, mehrfach verlegt von einem Lager in das nächste. Die Russen waren es schließlich, die ihn befreiten, und wieder verbrachte er einige Zeit in einem Lager und beantwortete endlose Fragen mit dem letzten Rest seiner erschöpften Kräfte. Sie hatten Mühe, zu entscheiden, ob er nun Pole, Ungar oder Tscheche sei, und reagierten skeptisch auf alles, was er ihnen erzählte. Schließlich gaben sie es auf, und Ende 1946 kehrte er heim in eine graue, unruhige Tschechoslowakei. Sein Vater war spurlos verschwunden; ebenso seine Mutter. Der Laden war nicht mehr da. Er war zweiundvierzig Jahre alt und fühlte sich wie eine Waise, aller Gefühle beraubt, hart, leer, ohne die nötige Kraft zum Selbstmord. Selbstmitleid wäre unter solchen Umständen lächerlich gewesen. Der Winterschlaf hatte zu lange gedauert, die Wunde war zu tief, zu scharf. Er wollte sich endlich frei bewegen, seine Beine gebrauchen, wieder bewußt atmen – ein, aus, ein, aus. Einige Zeit arbeitete er als Nachtwächter in einer Wurstfabrik. An Einsamkeit war er gewöhnt; ohne sie fühlte er sich sogar verloren. Doch die Freiheit war ihm noch ungewohnt, und er kochte sich jede Nacht einen scheußlichen Kaffee, und jede Nacht schien es ihm eine Art Wunder, daß so etwas möglich sei: Kaffee zu wollen und
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