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Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Titel: Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
Autoren: Peter Ustinov
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nicht töten?« fragte Manasse. »Sie sind stärker als sie. Es kostet nicht viel Mühe, sie zu zertreten.«
    »Das ist noch kein Grund, sie zu töten!« brüllte Gargaglia unvermittelt.
    »Finden Sie Gründe. Sie sind ein intelligenter Mann«, krächzte Manasse. »Die Spinne lebt in einer grausamen Welt, in einer Welt ohne Sprache, ohne Verständigung, ohne Gespräch, einer Welt der Jäger und der Gejagten, einer unsentimentalen Welt. Fragen Sie sich doch selbst: Wenn Sie die Größe einer Spinne hätten, und diese die Größe eines Menschen, würde sie zögern, Sie zu töten?«
    »Nein.«
    »Darum töten Sie sie.«
    »Nein!«
    Manasse entspannte sich. »Warum haben wir den Krieg erklärt?« sagte er leise. »Es gab keinen Grund, diese Männer zu töten. Der Gedanke, eine Spinne zu töten, stößt Sie nicht ab, Gargaglia; nur weil ich Sie aufforderte, diese eine zu töten, scheuten Sie davor zurück. Sie sahen sie harmlos herumspazieren; sie hatten Zeit nachzudenken. Von Ihrem hohen Balkon herab sahen Sie die intakten Divisionen der italienischen Armee vor sich aufmarschieren, die Bajonette blitzend in einer Sonne, die offenbar nur für Sie alleine schien. Sie sahen nur die Uniformen, nicht die Männer; und da Sie die Männer nicht sahen, sahen Sie auch nicht die Frauen, die zukünftigen Witwen, und die Kinder, die Waisen von morgen. Sie sahen die goldenen Hüllen, aber nicht das verheißene Elend, das sie enthielten. Sie hatten keine Vorstellungskraft, Gargaglia. Bei all Ihrer oberflächlichen Intelligenz, bei all Ihrer Klugheit waren Sie unverantwortlich wie ein Kind, das man mit den unbezahlbaren Schätzen einer Kathedrale spielen läßt. Ihre Schuld ist gewaltig, unermeßlich, erschreckend.«
    Heftig trat Gargaglia mit dem Fuß auf die Spinne. »Bravo!« Manasse klatschte sarkastisch in die Hände. »Welch ein Mut! Ich hatte Sie unterschätzt. Sie sind doch ein Mann von Charakter, ein Staatsmann bis zum Schluß!« Gargaglia brach in Tränen der Demütigung aus. »Warum weinen Sie?« fragte Manasse leise. »Gelten diese Tränen vielleicht der letzten Witwe, die Sie zu einer solchen machten?«
    Gargaglia hämmerte sich mit den Fäusten auf die Knie. Sein Zorn war der eines Kindes, und dennoch flossen seine Tränen nicht aus seinem Verstand.
    Manasse wurde sanft und zartfühlend. »Es ist furchtbar, auf die Entscheidung von Leuten zu warten, denen Sie weder Vertrauen noch Bewunderung entgegenbringen, nicht wahr? Sie erleben es erst ein paar Stunden; ich erlebte es drei Jahre lang. Aber ich kann Ihnen verraten, die ersten Stunden sind die schlimmsten. Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergeht, aber ich war ein Feigling. Ich stellte mir nur vor, wie ich mich verhalten würde, wenn es zum Schlimmsten käme. Nie sah ich mich meine Beredsamkeit unter Kontrolle halten. Ich war mir immer sicher, ich würde sterben und dabei Reden halten, mich rechtfertigen vor einem Gericht von Gewehrläufen.« Er machte ein Pause. »Ich bin sicher, es ist schwerer, wenn man begabt ist. Ein einfacher Mann kann mit Würde sterben, weil ihm letzten Endes nichts anderes übrigbleibt. Würde ist ja nichts anderes als Schweigsamkeit, und was führt eher zu Schweigsamkeit als Unwissenheit? Bei uns ist es anders. Haben Sie nicht das Gefühl, Sie hätten noch so viel zu geben, so viel zu tun? Erscheint Ihnen das Leben, selbst wenn es bis an sein natürliches Ende währte, nicht fürchterlich kurz?«
    »Warum quälen Sie mich?« kreischte Gargaglia. »Sind Sie nicht zufrieden, mich so zu sehen?«
    Manasse zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Solch ein Wutanfall«, sagte er, »und dabei bin ich gekommen, um Ihnen gute Nachricht zu bringen.«
    Der schluchzende Gargaglia sah seinen Peiniger an, und sein Atem ging merklich langsamer. »Gute Nachricht?« Manasse grinste gewinnend. »Sie werden nicht erschossen.«
    »Nicht -?«
    »Sie werden vor Gericht gestellt.«
    Gargaglia gelang ein bitteres Auflachen. »In diesem Fall werde ich nicht jetzt erschossen. Später.«
    »Sie werden überhaupt nicht erschossen.«
    »Wie – woher wissen Sie das?«
    »Weil ich Sie verteidigen werde.«
    »Sie?«
    Es entstand ein langes Schweigen, während Gargaglia das Gesicht des Anwalts studierte.
    Plötzlich sprang Gargaglia auf. »Das also ist Ihre Rache?« schrie er. »Sie werden mich verteidigen. Sie werden mich auf solche Art verteidigen, daß ich verurteilt sein werde, noch bevor ich den Fuß in den Gerichtssaal gesetzt habe. Sie werden alle Ihre juristischen Tricks
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