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Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Titel: Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
Autoren: Peter Ustinov
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»Ein Schiff?« fragte er Vicente. Vicente nickte. »In Not?«
    Vicente machte eine Gebärde, eine müde, alles umfassende Armbewegung, und warf den Kopf zurück, um anzudeuten, wie ungeheuer die Not sei.
    Paco stolperte barfuß davon und weckte mit seinem Gerede von Schiffbruch eine Anzahl anderer Männer. Der Grund, warum die Männer seinem Ruf so bereitwillig folgten, war dieser: Vor beinah zwanzig Jahren hatten sie eine belgische Yacht in Sicherheit geschleppt und waren mit der Hälfte ihres Kaufpreises belohnt worden, was einem Gesetz der Seefahrt entspricht. Dieses Prisengeld hatte viel Glück ins Dorf gebracht, und einer der Männer, ein gewisser Diego Linares Montoya, konnte sich aufgrund dieser Gabe vom Himmel sogar seinen lebenslangen Traum erfüllen, an Leberzirrhose zu sterben. Auch damals hatte Vicente, in jener Zeit neu auf der Mauer am Strand, in den pechschwarzen Himmel gespäht und ein Unglück vorausgeahnt. Er war in der ganzen Gegend berühmt für die Schärfe seiner Sinne, denn die anderen erkannten, nicht ohne Verbitterung, daß er den Mut gehabt hatte, Junggeselle zu bleiben, und daß, wie zur Belohnung, sein Auge und Ohr, vor allem aber sein telepathisches Gefühl klar und ungeschwächt blieben.
    »Ich möchte wetten, diesmal hat er sich geirrt«, brummte Jose Machado Jaen, der mithalf, das schwere Boot ins Wasser zu schieben.
    »Und wenn du deine zehntausend Peseta hast, will ich zuschauen, wie du an deinen Worten erstickst«, sagte Paco. Die Frauen standen als wimmernde Phalanx am Rande des Wassers, ihre Taschentücher an den Mund gedrückt, nach Tragödie gierend und Gebete murmelnd. Wie ein Odysseus stand Vicente im Heck, die Ruderpinne umklammernd, und steuerte das Boot hinaus in die Zone des jähen Windes. Die Frauen sahen ihre Männer verschwinden, wieder auftauchen, verschwinden, noch einmal auftauchen und schließlich im Dunkel verschwinden. Nur der Rhythmus der Ruder war noch ein Weilchen zu hören, dann wurde auch er verschluckt vom anschwellenden Sturm.
    Die Wellen türmten sich hoch wie Berge, aber die Männer achteten kaum darauf. Erst als Vicente die Hand hob und sie zu rudern aufhörten, wurden sie sich bewußt, welch ein Wahnsinn dies alles war. Jetzt regnete es, und Brecher stürzten auf sie herein und tauchten ihre Füße bis über die Waden in Springfluten hysterischen Wassers.
    »Wir werden alle ertrinken, es wird ein prächtiges Begräbnis geben!« brüllte Jose Machado Jaen. »Der Alte weiß, was er tut!« schrie Paco. Vicentes Miene blieb ungerührt, als er sich umsah – sein hageres Gesicht feucht von der Gischt. Er gab mit der Hand ein Zeichen, und die Männer stellten das Boot quer zu den Wellen, wobei es fast kenterte. Da war nichts zu sehen von Mast oder Rumpf, kein Laut zu hören, nur das fröhliche Toben der See. Die Männer blickten ängstlich auf Vicente, und plötzlich straffte sich seine Gestalt. Sie folgten seinem starren Blick, und plötzlich tauchte ein dunkler Gegenstand auf, nur um gleich wieder in einem tiefen Wellental zu versinken. So sehr sie sich anstrengten, es schien unmöglich, ihn zu erreichen. Das Meer zerstört jedes Gefühl für Entfernung. Mal trieb der dunkle Gegenstand davon, mal war er neben ihnen, wie festgesaugt an der Seite des Bootes. Es war ein Mensch. Die Füße der spanischen Fischer waren geschickt, sie waren gewandt wie Affenfüße, und jetzt hängten sich die Männer gefährlich weit über die Bordwand, und auch wenn eine elementare Angst sie zuweilen erfaßte, hielten sie ihn fest, den armen Kerl, und endlich gelang es ihnen, ihn in das Boot zu ziehen. Niemand konnte Vicente zum Vorwurf machen, daß es diesmal kein Prisengeld gab. Seine Sinne waren so scharf gewesen wie eh und je, und es war klar, daß er das Werk Gottes verrichtete, das, wenngleich weniger lukrativ als manches Menschenwerk, das Gewissen im voraus für die nächste Todsünde salvieren konnte. Die Besatzung fühlte sich demütig und tugendhaft, während sie mit kräftigem Ruderschlag zum Dorf zurückkehrte. Sie durften sicher sein, daß es ihnen vergönnt war, an einem Wunder mitzuwirken.
    Der Gerettete war mehr tot als lebendig, als sie ihn an Land schleppten. Er trug eine weiße Hose aus grober Leinwand, aber sein Oberkörper war nackt und entsetzlich mager. Seine Haut war dunkel, doch man sah, es war ein Fremder. Seine ergrauten Augenbrauen stießen über dem Rücken seiner Adlernase zusammen, und seine vollen Lippen zeigten jene sinnliche Arroganz, die
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