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Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Gott und die Staatlichen Eisenbahnen

Titel: Gott und die Staatlichen Eisenbahnen
Autoren: Peter Ustinov
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Menschen vom östlichen Mittelmeer oft mit ihren Kamelen gemein haben.
    Die Männer waren so stark vom Gefühl eines biblischen Wunders ergriffen, daß es sich auch auf die Frauen übertrug, und so wetteiferten die Paare, dem halbtoten Mann ihre Gastfreundschaft anzutragen – fast kam es zu Prügeleien im Kampf um ein Visum zum Himmel. Schließlich beschloß man, daß die Ehre, diesem triefenden Häuflein Mensch das eigene Sofa zu opfern, einem gewissen Antonio Martinez Mariscal zuteil werden solle; er war der älteste unter den Rettern und würde, wahrscheinlich früher als alle anderen, ein Plus auf der Habenseite des Seelenkontos benötigen. Der nächste Arzt wohnte in Maere de las Victorias, einer Kleinstadt, vielleicht achtzehn Kilometer landeinwärts. Paco Miranda Ramirez strampelte los, auf einem rostigen Fahrrad ohne Beleuchtung, um ihn zu holen. Da ihm die eine Chance für eine gute Tat entgangen war, riß er sich um eine andere, wenn auch anstrengendere und schwierigere. Eusebio Sanchez Marin war bereit, zu Fuß nach Santa Maria de la Immaculada Conception zu laufen, um aus dem Nachbardorf den Priester zu holen: Die gute Tat sollte doch von der richtigen Autorität registriert werden. Die übrigen Dorfbewohner schauten den beiden Freiwilligen nach – eifersüchtig wie Flagellanten in der Karwoche, die feststellen müssen, daß es nicht genügend Geißeln für alle gibt.
    Es war schon fast vier Uhr früh, und am Horizont breitete sich federförmig ein schwacher Lichtschimmer aus, als Dr. Valdes in seinem rachitischen Auto eintraf. Auf dem Trittbrett stand Paco Miranda und hielt sein Fahrrad auf dem Wagendach fest. Einer der schwächlichen Scheinwerfer am Auto des Doktors blinzelte unentwegt zweideutig, wie ein alter Lüstling am hinteren Bühneneingang. Der Arzt und sein Wagen glichen sich, waren sich ähnlich geworden wie Herr und Hund. »Laßt mal dieses Wunder sehen«, schnaufte er, während er Antonios Hütte betrat. Vicente zeigte mit einem Kopfnicken auf den Fremden. Die Frauen machten ehrfürchtig Platz, und der Doktor sah einen verängstigten kleinen Mann in einem um etliche Nummern zu großen Hemd auf Antonios Bett liegen – wie das Modell einer Rembrandtschen Anatomievorlesung. Der ängstliche Ausdruck in seinem Gesicht war zweifellos bedingt durch diese Runde gigantischer Frauen, die über Nacht bei ihm gewacht hatten, murmelnd, ihren Rosenkranz betend und sein Gesicht nach einem überirdischen Zeichen absuchend. Alles in allem war das sicherlich nervenaufreibender gewesen als ein Schiffbruch.
    »Er ist kein Spanier«, verkündete Pacos Gemahlin mit finsterem Blick – und dies bedeutete, daß ihm der Segen des wahren Kreuzes vielleicht verwehrt bleiben müsse. Die anderen Gattinnen wollten in ihren Vermutungen nicht so weit gehen, sie hielten ihn für einen Basken, einen Portugiesen aus einer fernen Provinz, vielleicht gar einen Südamerikaner. Der Arzt erkundigte sich, wie der Mann sich fühle. Er grinste ausdruckslos; anscheinend merkte er am Tonfall der Stimme, daß er angesprochen wurde, schien aber nicht fähig oder willens, eine Antwort zu geben.
    »Meiner Meinung nach«, sagte der Arzt, »ist er ein Spanier wie jeder andere hier im Raum, aber geistig zurückgeblieben; oder er steht unter einem traumatischen Schock, der ihm die Sprache geraubt hat.«
    »Ist er ein Spanier, Vicente?« fragte Paco. Vicente schüttelte den Kopf.
    »Was, zum Teufel, weiß denn der Alte?« ereiferte sich der Arzt. »Kann weder lesen noch schreiben, und plötzlich maßt er sich die Entscheidung an, ob jemand Spanier ist oder nicht!« Vicente zuckte mit den Schultern – wie ein Kind, dem es ganz schnuppe ist, ob es bestraft wird.
    Als Pater Ignacio, der Priester, eintraf, konnte Pacos Frau ihn in Kenntnis setzen, daß Gott ein Wunder an einem Narren gewirkt habe, der von vernünftigen Leuten aus tobender See gerettet worden sei. Dies habe, so deutete sie an, einen Ruch von christlicher Nächstenliebe, gewürzt mit einer Prise himmlischen Wohlgefallens.
    Pater Ignacio, einer der Armen im Geiste, wie auch an Leib und Gliedern, war bestens bewandert in jenem Niemandsland skeptischer Erwartungen, wo manche Dorfpriester ihre Gedanken zur Weide führen. Kurz, er wußte, daß Wunder zu anderen Zeiten, an anderen Orten geschehen waren, und hatte dennoch die traurige Gewißheit, daß ihm selbst niemals etwas Außerordentliches widerfahren würde. Und falls doch, so hätte er sicher nicht gewußt, wie er sich verhalten
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