Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gott geweiht

Gott geweiht

Titel: Gott geweiht
Autoren: C.E. Lawrence
Vom Netzwerk:
konnte wie ein Sturm über der See von Killarney Bay, wohin er seinen Stammbaum über mehrere Jahrhunderte zurückverfolgen konnte. Gerüchten zufolge war sein Vater Mitglied der berüchtigten Westies gewesen, einer irischen Mörderbande in Hell’s Kitchen, die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ihr Unwesen trieb. Es hieß, dass gegen ihre Rücksichtslosigkeit und Brutalität italienische Mafiosi wie Chorknaben wirkten.
    Eigentlich galt Nelson eher als reserviert, dennoch war sein Interesse an Lee unverhohlen väterlich gewesen. Vielleicht weil Lee gute zehn Jahre älter als der durchschnittliche John-Jay-Student war oder vielleicht auch einfach nur wegen ihrer gemeinsamen irischen Abstammung. Nelson begegnete Lee mit einer Freundlichkeit, die er anderen Studenten gegenüber nicht zeigte. Tatsächlich schien er die menschliche Rasse im Allgemeinen für nicht derselben Zuneigung wert zu halten, mit der er seinen Irish Setter Rex behandelte. Nelson vergötterte das Tier und verwöhnte es so gnadenlos, wie dies ansonsten nur bei Schoßhündchen der Upper East Side der Fall war.
    Lees Werdegang verfolgte er auch noch, nachdem dieser das College verlassen und als erster und einziger Profiler beim NYPD angefangen hatte – eine Anstellung, die unter anderem Nelson mit seinem Einfluss überhaupt erst ermöglicht hatte. Die gemeinsamen Kneipentouren gingen ebenfalls weiter, wie auch die spätabendlichen Unterhaltungen über deutsche Komponisten, französische Philosophen und irische Dichter.
    Im Augenblick war Nelson jedoch alles andere als zufrieden mit seinem Lieblingsstudenten.
    »Ich hätte dir mehr Verstand zugetraut, ganz ehrlich«, sagte er, während er sich eine Zigarette ansteckte, die er aus den Tiefen seines Schreibtisches hervorgekramt hatte.
    Lee bemerkte, dass Nelsons Hände zitterten. Der Professor nahm einen tiefen Zug und spielte geistesabwesend mit dem Ehering an seiner linken Hand. Seine Frau war inzwischen seit fast drei Monaten tot, doch er trug den Ring noch immer. Lee fragte sich, warum – um mögliche Aspirantinnen abzuschrecken? Aus Achtung vor Karens Andenken? Nelson sprach nur selten über sie, doch ihr Bild hing im Wohnzimmer seiner geräumigen Wohnung, jung und lächelnd sah man sie darauf auf einem Segelboot, den böigen Wind in den kurzen braunen Locken – noch keine Spur vom Krebs, der sie in späteren Jahren lange unbemerkt von innen auffressen sollte.
    Mit einem Mal beruhigte Nelson sich wieder. Er atmete eine Rauchwolke aus, setzte sich hinter seinen Schreibtisch und verschränkte die Hände im Nacken.
    »Na schön, Junge«, sagte er. »Was ist denn so dringend an diesem Fall, dass es nicht warten kann?«
    Lee war an Nelsons abrupte Stimmungsumschwünge gewöhnt.
    »Ich habe einfach das Gefühl, dass ich hier helfen kann, dass ich – tja, ich kann mich in diesen Mörder hineinversetzen, ihn verstehen .«
    Nelson beugte sich vor und musterte Lee.
    »Ich bin mir nicht sicher, ob das unbedingt gut ist.«
    »Ja, ich weiß. Mir ist das Risiko bewusst, dass ich –«
    »Dass möglicherweise du deine Objektivität verlierst.«
    Jetzt war es an Lee, wütend zu werden.
    »Diese ganze angebliche Objektivität ist doch eh nur Einbildung.«
    Nelson schaute überrascht drein, doch Lee fuhr fort.
    »So etwas gibt es einfach nicht! Das ist pure Erfindung, und zwar von Leuten, die Angst davor haben, irgendwelchen Gefahren vielleicht zu nahe zu kommen.«
    Nelson zog an seiner Zigarette. »Wenn du damit sagen willst, dass Objektivität relativ ist, dann würde ich dir zustimmen.«
    »Nein, was ich sagen will, ist, dass sie überhaupt nicht existiert. Das Ganze ist eine längst überholte Idee aus der Zeit der Aufklärung, irgendein klassisches Modell, das zusammen mit den gepuderten Perücken und Kniebundhosen aus der Mode hätte kommen müssen – nur dass wir das bis jetzt nicht begriffen haben. Es ist ein unerreichbares Ideal.«
    Nelson schnaubte und drückte seine Zigarette auf dem Fußboden aus. »Unerreichbar oder nicht, als Ermittler bist du es den Opfern – und dir selbst – schuldig, so objektiv wie möglich zu bleiben. Sonst stehen all unsere Schlussfolgerungen auf dem schwankenden Fundament unserer Emotionen.«
    Lee spürte, wie sich seine Schultern anspannten, während er Nelson ansah. »Was willst du damit sagen?«
    Nelson hielt seinem Blick stand. »Ich glaube, das weißt du.«
    Lee antwortete nicht. Das folgende Schweigen hing schwer zwischen den beiden Männern in dem vollgestopften
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher