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Nichts als Knochen

Nichts als Knochen

Titel: Nichts als Knochen
Autoren: Felizitas Carmann
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Vatikan
    P rälat Antonio Schiavo warf einen Blick auf seine Armbanduhr und seufzte. Gleich halb eins, der Lesesaal des Geheimarchivs würde bald geschlossen werden. Aber er hatte genug gelesen, um Gewissheit zu haben. Als er letzte Woche zum ersten Mal auf das Dokument gestoßen war, hatte er zuerst nicht geglaubt, was er dort las. Seither hatte er weiter nachgeforscht und sich noch andere Dokumente zu den verschiedenen Details angesehen. Alle Teile passten zusammen: das Kloster Wedinghausen, der junge Benediktinermönch, seine Aufzeichnungen über den Fund des Prämonstratensernovizen und schließlich der Verbleib des Fundstücks nach der Wiederbesiedlung des Benediktinerklosters.
    Langsam stand Antonio Schiavo auf, brachte die Schriften zurück an ihren Platz und folgte den langen Gängen, die ihn aus dem Vatikanischen Geheimarchiv hinausführten. Als er aus dem Gebäude auf die Straße trat, blieb er kurz stehen und blinzelte in die grelle Märzsonne, die am wolkenlosen römischen Himmel klebte.
    Er musste handeln. Dies war die Chance seines Lebens, auf die er immer gewartet hatte. Die Beichte des Prämonstratensermönchs war nicht einfach zu interpretieren gewesen. Vieles bestand nur aus vagen Andeutungen, und doch war der Schluss, den er aus all dem gezogen hatte, der einzig logische.
    ›Und damit ist endlich der Grundstein gelegt für deinen unaufhaltsamen Aufstieg in der römischen Kurie‹, dachte Schiavo selbstzufrieden und erlaubte sich ein breites Grinsen.
    Er war ehrgeizig, das musste er zugeben. Manche würden sogar sagen, er sei krankhaft ehrgeizig. Umso mehr empfand er die letzten fünfundzwanzig Jahre als persönliche Beleidigung. Fünfundzwanzig aufopferungsvolle Jahre in den Diensten der Kirche, und was war aus ihm geworden? Prälat! Pah! Sklave des Kardinals wäre wohl treffender! Aber damit war jetzt endgültig Schluss. Wenn er seine Entdeckung in die richtigen Hände weitergab und damit Schaden von der Kirche abgewendet werden konnte, würde der Heilige Vater dies wohlwollend honorieren. Zufrieden summte er eine kleine Melodie, als er die Piazza del Risorgimento überquerte, und ein Ausdruck von Seligkeit überzog sein Gesicht.
    Plötzlich hielt er abrupt inne.
    Was, wenn schon jemand vor ihm dieselbe Entdeckung gemacht hatte? Was, wenn der Heilige Stuhl längst gehandelt hatte und das Objekt schon lange in den Tiefen des Vatikans verschwunden war? Kein Mensch hätte je davon erfahren, also auch er nicht.
    Mit gerunzelter Stirn und auf dem Rücken verschränkten Händen setzte er seinen Weg fort.
    Er musste es in Erfahrung bringen. Am besten wäre, er würde das Kloster aufsuchen und einfach nachsehen. Wenn es noch da war, konnte er es persönlich dem Heiligen Vater überbringen, was seinen Ruhm zweifellos noch vergrößern würde. Wenn es nicht mehr da war, konnte das nur bedeuten, dass der Vatikan es schon an sich gebracht hatte. Dann konnte er sich zumindest die Peinlichkeit ersparen, eine große Entdeckung anzupreisen, die bei den wichtigen Leuten längst bekannt war.
    Ja, so würde er es machen. Jemand musste nachsehen, aber er konnte unmöglich weg aus Rom. Er würde Hilfe brauchen – und er wusste auch schon, von wem. Entschlossen lenkte er seine Schritte zurück in Richtung Petersplatz.
    Dario Forza stand unbeweglich in der prallen Mittagssonne, die schon jetzt, Anfang März, heiß brannte, und schaltete jeden Gedanken aus, der ihn von seiner Pflicht abhalten könnte. Die Uniform mit dem Helm begann unerträglich warm zu werden, und einige der anderen Hellebardiere hatten sich schon unauffällig an eine schattige Stelle zurückgezogen. Doch Dario stand unerschütterlich auf seinem Posten. Er war schon immer sehr unempfindlich gegen Schmerzen, Hitze oder Kälte gewesen. Es war fast, als könne er seinem Körper verbieten zu leiden. Nur manchmal gab es Situationen, in denen dieser ihm nicht gehorchte, und das waren die Momente, die ihm Angst machten und in denen die Reaktionen seines Körpers ein bedrohliches Eigenleben entwickelten. Doch meist hatte er sich im Griff, so wie jetzt. Die zwei Jahre bei der Schweizergarde hatten seine Selbstdisziplin noch gestärkt, und er sah dem Ende seiner Dienstzeit in drei Wochen mit ein wenig Wehmut entgegen. Aber er konnte sich nicht noch länger verpflichten. Die Schweizergarde war eine Zwischenstation, die ihm in einer schwierigen Lebenssituation Halt gegeben hatte. Doch jetzt musste er sich neuen Dingen zuwenden, wenn er auch noch nicht genau
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