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Gott geweiht

Gott geweiht

Titel: Gott geweiht
Autoren: C.E. Lawrence
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von allen Seiten, stoisch und professionell.
    Wenn er sich so umsah, kam es Lee vor, als wäre er der Einzige, der hier eigentlich nicht hingehörte – der Einzige, der nichts beizutragen hatte zur Aufklärung dieses schrecklichen Verbrechens, eines Verbrechens gegen Anstand und Gesellschaft. Er überlegte, ob sein Freund Chuck Morton, Chef der Bronx Major Case Unit, sich vielleicht in der Nummer geirrt hatte, als er ihn heute in den frühen Morgenstunden angerufen und ihn gebeten hatte, zum Tatort zu kommen. Obwohl Lee nun schon zwei Jahre lang als einziger hauptberuflicher Profiler für die New Yorker Polizei arbeitete, zweifelte er immer noch daran, ob er für den Job geeignet war.
    »Na, Doc, was meinen Sie?« Detective Butts’ laute Stimme zerriss die andächtige Atmosphäre der Kapelle.
    Lee schaute zu Butts auf, dem eine kalte Zigarre aus dem Mundwinkel hing. Er hatte dem Mann nun schon zweimal erklärt, dass er seinen Doktor in Psychologie hatte und nicht in Medizin, aber Butts blieb dabei, ihn Doc zu nennen. Mit seinen Bartstoppeln und den ungepflegten Haaren hätte man den Detective eher in einem heruntergekommenen Wettbüro vermutet. Dass Butts unrasiert war, konnte Lee ihm allerdings nicht vorwerfen; schließlich war es gerade einmal sechs Uhr morgens, und sein eigenes Kinn fühlte sich auch nicht sonderlich glatt an.
    Der Detective hatte nicht die regelmäßigen Züge eines attraktiven irischen Bilderbuchcops. Seine waren seltsam asymmetrisch, mit schlaffen Wangen, einer dicken Unterlippe, kleinen Augen und einer Haut wie ein Kraterfeld. Es war schwer zu sagen, wo sein Schädel aufhörte und der Nacken anfing; der Hals ging nahtlos in den Kopf über, faltige braune Haut verlor sich unter einem grauen kurz geschorenen Haaransatz. Lee fühlte sich an die Tafelberge erinnert, die er in Arizona gesehen hatte. Ansonsten war der Detective klein und dick – ein Elmer Fudd im Trenchcoat.
    »Na, was meinen Sie?«, wiederholte Butts. »War’s ihr Freund?«
    »Nein«, antwortete Lee. »Das glaube ich nicht.«
    »Würgen ist typisch für häusliche Gewalt, wissen Sie«, sagte Butts. Er kniff seine Augen im Schummerlicht der Kapelle angestrengt zusammen, sodass sie noch kleiner wurden. Als Lee nichts erwiderte, fügte er hinzu: »Wissen Sie, wie viele Opfer ihren Mörder gekannt haben?«
    »Achtzig Prozent«, sagte Lee und beugte sich wieder über Marie.
    »Stimmt«, sagte Butts und schien überrascht, dass Lee das tatsächlich wusste.
    Lee richtete sich auf und streckte seinen verkrampften Rücken. Mit fast einem Meter neunzig war er einen guten Kopf größer als der untersetzte Detective. Er fuhr sich durch seine schwarzen gewellten Haare, die im Nacken schon zu lang wurden.
    Butts runzelte die Stirn und biss fester auf die Zigarre. »Und wer war es dann Ihrer Meinung nach?«
    Lee trat beiseite, als die Männer von der Gerichtsmedizin die Leiche auf die Trage hoben. Die Leute von der Spurensicherung fuhren mit ihrer Arbeit fort; durch ihre Ruhe und ihre methodische Vorgehensweise wirkten sie wie das genaue Gegenteil zu diesem Detective mit der ramponierten Zigarre und der vernarbten Haut.
    Lee betrachtete seine Hände, sie kamen ihm nutzlos vor. »Ich habe keine Ahnung«, antwortete er.
    Butts machte ein Geräusch, das irgendwo zwischen einem Schnauben und einem Seufzer lag: »Hmpf. Okay, Doc – falls Ihnen noch irgendwas einfällt, sagen Sie mir Bescheid.«
    »Einfallen tut mir eine ganze Menge«, erklärte Lee. »Ich bin mir nur noch nicht sicher, wie das alles zusammenpasst.«
    Butts schob die Zigarre in den anderen Mundwinkel. »Ach ja? Na dann lassen Sie mal hören.«
    »Es ist noch zu früh, um endgültige Schlüsse zu ziehen, aber ich denke, der Angreifer hat sein Opfer vorher nicht gekannt.«
    »Aha?« Man hörte Butts’ Stimme an, dass er von der Theorie nichts hielt.
    »Das hier ist kein Verbrechen aus persönlichen Motiven – sondern ein Ritualmord.«
    Butts legte den Kopf schief und ließ die Zigarre von seinen dicken Lippen hängen. »Und wie kommen Sie darauf?«
    »Überlegen Sie doch nur mal, wo die Leiche abgelegt wurde – der Täter will uns schockieren. Und dann die eingeritzte Botschaft.«
    »Ja, schön, das ist mir auch klar«, sagte der Detective genervt. »Ich behaupte ja nicht, dass der Täter keinen Knall hat. Wenn Sie wüssten, was manche von den Typen ihren Freundinnen antun, ich sage Ihnen …«
    »Und dann lassen sie sie in einer Kirche liegen?«
    »Sie ist nicht hier getötet
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