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Gott geweiht

Gott geweiht

Titel: Gott geweiht
Autoren: C.E. Lawrence
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zwar angenehmen, doch unscheinbaren Züge – glatte, braune Haare über einem schmalen, weichen Mund und traurigen, braunen Augen. Im grellen Neonlicht hatte sein Gesicht eine ungesund blasse, gräuliche Farbe, und die Ränder unter seinen Augen wirkten pechschwarz. Er sah jung aus – sogar noch jünger als die arme Marie – und sehr, sehr verängstigt. Nicht weil er schuldig ist, dachte Lee bei sich, sondern einfach, weil er eine Heidenangst hat. Lee hätte wetten mögen, dass der junge Mann noch nie das Innere einer Revierwache gesehen hatte, und wenn, dann schon gar nicht als Verdächtiger.
    Solange er sich erinnern konnte, hatte Lee die ungewöhnliche Fähigkeit besessen, in Menschen zu »lesen« wie in einem Buch. Früher dachte er, dass jeder das könne, und erst nach Abschluss seines Psychologiestudiums hatte er begriffen, wie außergewöhnlich seine Gabe war. Er studierte menschliches Verhalten anhand von Lehrbüchern, die ihm instinktiv schon immer vertraute Dinge erklärten. Er durchschaute Menschen – konnte ihnen in die Seele blicken, wenn man so wollte.
    Wenn er jetzt den verängstigten Jungen ansah, der dort vor ihm saß, war Lee überzeugt, dass dieser keine Schuld am Mord an seiner Freundin trug.
    Detective Butts kam mit zwei Pappbechern Kaffee ins Vernehmungszimmer, einen davon schob er dem jungen Mann über den zerkratzten Resopaltisch hin.
    »Dachte mir, den könnten Sie vielleicht brauchen«, sagte er und setzte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl.
    »Danke«, erwiderte der Junge mit dünnem Stimmchen, rührte den Kaffee aber nicht an. Butts zog den Plastikdeckel seines eigenen Bechers mit einer geübten Bewegung ab und schlürfte lautstark.
    »Schon besser«, sagte er und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er schien die Situation zu genießen. »Morgens kein Kaffee ist für mich das Schlimmste, ehrlich.«
    Der junge Mann starrte Butts an, das Gesicht noch immer angstverzerrt. Er erinnerte Lee an einen in die Ecke getriebenen Fuchs, den er einmal gesehen hatte – das Tier hatte den gleichen Blick gehabt, eine Mischung aus Misstrauen und panischer Angst. Die Befragung würde sich als reine Zeitverschwendung erweisen. Lee wusste, dass Butts seinetwegen eine große Show abzog, um ihn mit seinen überragenden Vernehmungstaktiken zu beeindrucken. Zuerst musst du ihn weich kochen, sein Freund werden, dann kommt der Todesstoß . Diese Methode war so plump, dass Lee überzeugt war, dass jeder Verbrecher – selbst der unbedarfteste Ladendieb – sie auf den ersten Blick durchschaute. Doch dieser Junge war kein Verbrecher, und Lee schätzte, dass Butts das auch wusste – aber Vorschrift war nun einmal Vorschrift. Alles musste seine Richtigkeit haben.
    »Okay«, sagte der Detective. Er stellte seinen Kaffee ab und warf einen Blick in die Akte vor sich auf dem Tisch. »Mr. … Winters. Schlimme Sache, muss ich sagen – tut mir leid, was Ihrer Freundin zugestoßen ist.«
    »Ja«, erwiderte Winters fast unhörbar.
    »Darf ich Sie Ralph nennen?«
    »Okay«, antwortete der junge Mann, seine Stimme noch immer nicht viel mehr als ein Flüstern. Lee hätte am liebsten eingegriffen, doch das kam nicht infrage. Das hier war Butts’ Fall, und das Letzte, was Lee wollte, war, den dicklichen Detective gegen sich aufzubringen.
    Ralph starrte auf den unberührten Kaffee vor sich, auf das dünne Dampffähnchen, das aus der winzigen Öffnung im Deckel aufstieg.
    »Na schön, Ralph«, sagte Butts, »erzählen Sie mir einfach alles, was uns weiterhelfen könnte.«
    Ralph schluckte zweimal schwer, wobei sein Adamsapfel deutlich sichtbar im dürren Hals hüpfte. Er sah aus, als wäre er den Tränen nahe.
    »Hier steht, Sie studieren Chemie«, fuhr Butts fort, vielleicht um Ralph die Peinlichkeit der Tränen zu ersparen, wie Lee hoffte. Was immer auch sein Motiv war, es funktionierte offenkundig. Der Junge beugte sich vor, und er sah Butts zum ersten Mal direkt an, dann griff er mit zitternder Hand nach seinem Kaffee.
    »Ja. Organische Chemie. Ich will Pathologe werden.« Er trank einen Schluck Kaffee.
    »Ach wirklich?« Butts’ Ton war freundlich, jovial. »Sie interessieren sich für Forensik?«
    »Ähm, eigentlich möchte ich mich auf Krankheiten spezialisieren.«
    »Schau an«, erwiderte Butts lächelnd. »Was sagt man dazu? Für solche Sachen braucht’s ein schlaues Köpfchen. Ich habe mit Naturwissenschaft nie viel am Hut gehabt. Ich beneide Typen wie Sie.«
    Ralph schien diesem Versuch, ihm Honig um den Bart
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