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Gott geweiht

Gott geweiht

Titel: Gott geweiht
Autoren: C.E. Lawrence
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wiederholen, sie als echten Menschen zu sehen, nicht einfach als ›das Opfer‹, wie Detectives das oft taten. Sie als Menschen zu betrachten machte die Sache emotionaler, motivierte ihn aber gleichzeitig auch. Lee hielt den Atem an, als die Männer den Reißverschluss am Plastiksack hochzogen. Er hasste das Geräusch der ineinandergreifenden Metallzähne – es klang so kalt und endgültig, von Maries jungem Leben war nichts übrig geblieben als dieses schreckliche traurige Geräusch.
    Er ging zu einer der Mitarbeiterinnen von der Gerichtsmedizin hinüber, der schlanken jungen Asiatin, die vorhin die Fotos gemacht hatte. Ihre Haut war so faltenfrei und glatt wie die von Marie – sie musste wohl koreanischer, vielleicht auch chinesischer Abstammung sein, vermutete er. Ihr glänzendes schwarzes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, der Overall von der Gerichtsmedizin war ihr gut zwei Nummern zu groß.
    »Haben Sie eine Ahnung, ob ihr die Verletzungen nach Eintritt des Todes beigebracht wurden oder –«, begann er.
    Sie antwortete hastig, als wollte sie das Gespräch so schnell wie möglich hinter sich bringen. »Höchstwahrscheinlich danach. Haben nicht stark geblutet.«
    »Höchstwahrscheinlich? Das heißt, es wäre trotzdem möglich …«
    Sie schüttelte den Kopf, und der schwarze Pferdeschwanz fuhr durch die Luft. »Ist manchmal schwer zu sagen, aber hier sieht man, wann das Blut aufgehört hat zu fließen. Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, aber ich würde schon davon ausgehen, dass es nach dem Eintritt des Todes war … Das hoffe ich zumindest schwer«, fügte sie leise hinzu. Lee sah, dass sie in ihrem übergroßen Overall zitterte.
    »Und die Waffe?«
    Sie runzelte die Stirn. »Kann man nur raten, aber nichts besonders Ausgefallenes – möglicherweise ein einfaches Messer, so eins, wie man sie überall kaufen kann.«
    »Danke«, sagte er und wandte sich zum Gehen.
    Unvermittelt hörte Lee hinter sich Schritte. Er drehte sich um und sah einen Mann am hinteren Ende des Kirchenschiffs. Er trug einen Handwerkeroverall und hatte einen Werkzeugkasten in der Hand.
    »Wer ist das?«, erkundigte er sich bei Butts, der am Nebeneingang haltgemacht hatte, um mit einem der Leute von der Spurensicherung zu sprechen.
    »Keine Ahnung«, antwortete der, dann ging er zu dem Mann und unterhielt sich mit ihm.
    »Schlüsseldienst«, erklärte der Detective, als er wieder zurückkam. »Die Univerwaltung hat ihn angerufen, weil im Keller ein Schloss kaputt ist. Ich habe ihm gesagt, er soll morgen wiederkommen.«
    Lee drehte sich zu Pater Flaherty um, der inzwischen herübergekommen war und nun neben Lee und Butts stand. Flaherty wirkte verloren und hatte den leeren Blick eines Menschen, der gerade einen Schock erlitten hat. »Wussten Sie, dass im Keller ein Türschloss kaputt ist?«
    Der Pfarrer schüttelte den Kopf. »Nein, kann aber sein, dass einer der Hausmeister Bescheid gegeben hat. Fragen Sie da mal nach.«
    »Gut«, sagte Butts und schrieb sich das in sein Notizbuch. »Glauben Sie, da besteht eine Verbindung?«, fragte er Lee.
    »Eher nicht, der Killer ist durch den offenen Nebeneingang hereingekommen und hat die Kapelle vermutlich auch auf demselben Weg wieder verlassen.«
    »Ich werde der Sache trotzdem mal nachgehen«, sagte Butts.
    Als sie die Kapelle verließen, pfiff Lee ein scharfer Wind um die Beine, der seine Jacke hochwehte und das trockene Laub in die Luft wirbelte wie ein Minitornado. Er zitterte und vergrub die Hände in den Taschen seiner grünen Tweedjacke. Im Osten zeigte sich ein fahles Morgengrauen, als er in Richtung Manhattan hinübersah, dorthin, wo von den einst stolzen Türmen des World Trade Center nichts als ein rauchendes Loch übrig geblieben war. Es war gerade einmal fünf Monate her, dass die beiden Flugzeuge wie mythische Ungeheuer vom Himmel gestürzt waren und mit dem Feuer ihres Drachenschlunds Zerstörung über die Stadt gebracht hatten … und Verzweiflung …
    Lee zwang seine Gedanken, in die Gegenwart zurückzukehren.
    »Er hat etwas mitgenommen«, murmelte Lee gedankenverloren. »Aber was?«
    »Was meinen Sie damit, er hat was mitgenommen ?«, fragte Butts.
    Lee schaute hinüber zur zerstörten Skyline von Manhattan und verlor sich einen Moment in ihrer schrecklichen Schönheit. »Ein Souvenir, ein Andenken.«
    »Mannomann, wozu das denn?«
    Lee drehte sich zu Butts und sah ihn an. »Wo waren Sie zuletzt im Urlaub?«
    Butts schob seinen abgewetzten Filzhut zurück
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