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Gott geweiht

Gott geweiht

Titel: Gott geweiht
Autoren: C.E. Lawrence
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schwarzen Hosen und einem gestärkten Oberhemd. Er trug feine Oxford-Lederschuhe und Socken mit Tartanmuster. Warum zog man sich noch extra Schuhe an, wenn man sich erhängen wollte? Er überlegte, ob auf den Totenfotos aus seinem Studium irgendjemand der Erhängten Schuhe getragen hatte, konnte sich aber an keinen solchen Fall erinnern.
    Er wandte seine Aufmerksamkeit dem umgefallenen Schemel zu. Irgendetwas störte ihn daran. Dann durchfuhr es ihn – er war zu niedrig! Wenn man ihn aufrecht hinstellte, reichte er nie im Leben bis zu Samuels Füßen!
    Jetzt war sich Lee sicher, dass er es mit einem Verbrechen zu tun hatte. Jemand hatte Samuel getötet und es dann wie einen Selbstmord aussehen lassen. Aber dieser Jemand war nicht sorgfältig genug gewesen. Entweder wusste er nicht, wie genau die Gutachter einen Tathergang rekonstruieren konnten, oder er hatte nur wenig Zeit für sein Täuschungsmanöver gehabt.
    Lees Blick fiel auf das Telefon auf dem Nachttisch, und einer plötzlichen Eingebung folgend, hob er den Hörer vorsichtig mit einem Taschentuch ab. Mit seinem Kugelschreiber drückte er die Wahlwiederholung.
    Die Tonfolge der gewählten Nummer war ihm so vertraut, dass er schon vor dem Erklingen des Freitons wusste, zu welchem Anschluss sie gehörte. Der Schock dieser grauenhaften Erkenntnis traf ihn mit ungeheurer Wucht. Plötzlich ergab alles einen Sinn, und er erkannte jeden Hinweis, den er missachtet, jeden falschen Schluss, den er gezogen hatte, weil das alles nicht sein konnte – nicht sein durfte! Und doch war es die grausame Wahrheit. Jetzt wusste er auch, was für ein schwerer, süßlicher Geruch hier im Zimmer hing.
    Mit zitternder Hand legte er den Telefonhörer auf.
    Eine Panikattacke überwältigte seinen wehrlosen Körper, breitete sich lähmend in ihm aus, und sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
    »Nein!« , presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während er versuchte, sich gegen die aufbrausende Angst zur Wehr zu setzen. » Jetzt nicht – reiß dich zusammen !«
    Er sah sich ein letztes Mal im Zimmer um. Für ihn gab es hier nichts mehr zu tun.
    Er musste sich beeilen – bevor alles zu spät war.

KAPITEL 62

    Dr. Azarians Haus war leicht zu finden. Es handelte sich um ein hübsches Backsteingebäude aus dem 19. Jahrhundert, das in einer wohlhabenden Nachbarschaft gelegen war. Die Gartenpforte stand offen. Lee ging hindurch und klingelte an der Tür. Kein Lebenszeichen. Im Haus brannte kein Licht, und auch ansonsten war nichts zu hören oder zu sehen. Also umrundete Lee das Haus und spähte durch alle Fenster. Nichts deutete auf einen Einbruch hin. Er schaute auf die Uhr. Es war noch nicht einmal fünf, das Treffen der Vidocq-Gesellschaft würde erst in ein paar Stunden beginnen. Kathy und ihr Vater konnten praktisch überall sein.
    Plötzlich überkam Lee eine Ahnung. Er unterdrückte eine erneute Panikattacke, wandte sich vom Haus ab und lief zurück zur Straße. Eine kleine alte Frau in einem Wollmantel schob einen Einkaufswagen voller Lebensmittel den Bürgersteig hinunter.
    »Entschuldigung!« Seine Stimme klang schrill. Er blieb stehen und hielt Abstand von der alten Dame, weil er ihr nicht unnötig Angst machen wollte.
    Die Frau drehte sich verwirrt um und musterte Lee dann argwöhnisch.
    »Entschuldigen Sie bitte«, wiederholte er etwas ruhiger. »Wissen Sie zufällig, wo sich die nächste katholische Kirche befindet?«
    Die alte Dame entspannte sich ein wenig, ihr Blick blieb allerdings misstrauisch. Sie trug üppig aufgetragenen blauen Lidschatten, und ihre Augen waren dick mit Kajal umrandet. Ganz unvermittelt begann sie zu lächeln und zeigte in nördlicher Richtung die Straße hinauf.
    »Da lang, an der zweiten Kreuzung«, erklärte sie mit dünner Stimme. »Obwohl ich ja lieber in St. Michael’s zur Messe gehe«, fuhr sie in verschwörerischem Ton fort. »Der Pfarrer dort ist zwar noch sehr jung, aber seine Predigten sind so schön.«
    Lee rannte sofort los. »Danke sehr«, rief er noch über die Schulter.
    Atemlos vor Angst, erreichte er sein Ziel.
    Die Kirche war ein massives neogotisches Ungeheuer von einem Gebäude, erbaut zu einer Zeit, als Arbeitskraft billig und Baumaterial reichlich vorhanden war.
    Lee sprintete die Stufen zum Eingang hoch, aber das Hauptportal war abgeschlossen. Er rannte weiter, um die Kirche herum, bis er an der Westseite eine kleine Tür entdeckte. Eilig drückte er die geschwungene Klinke herunter, und die Tür ging
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