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Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht
Autoren: Esther Maria Magnis
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Strohhalme nicht. Ich kannte meinen Bruder. Und selbst dieses Fremde, dieser tiefe Glaube, den er auf einmal ausstrahlte, dieser Ernst seiner Gebete und diese Klarheit in seinen Blicken, seine Schönheit, seine Einfachheit vor Gott, sein Erwachsensein und seine Ruhe, das alles war neu, aber letztendlich nichts anderes als ein Wiederkennen. Den hatte ich geliebt. Und das, was in Liebe kurz aufblitzt, war nun die ganze Zeit anwesend und sichtbar. Er war auf dem Grund seiner selbst vor Gott. Er war vollkommen präsent. Sein ganzes Wesen war da, er antwortete damit. Es brauchte keinen liebenden Blick mehr, um meinen Bruder sehen zu können.
    Es schneite, es ging auf Weihnachten zu. Wir mussten nicht mal schweigen in den Tagen. In der Stille zwischen den Sätzen lag ein einfacher, ständiger Ton – «Ich bin da» – und wir verloren unsere Angst.
    Es schneite. Die Stadt wurde stiller. Johannes, Mama, Steffi und ich warteten. Es schneite so, dass das Stromnetz ausfiel. Wir zündeten Kerzen an, beteten, und wenn wir aufhörten zu beten, blieb Gott in den Zimmern. Nie in meinem Leben war ich so auf dem Grund der Wirklichkeit angekommen wie damals, nie war es härter und dichter, niemals zuvor erlebte ich so eine Erlösung in allem, was war, wenn draußen der Sturm tobte und wir still beisammensaßen und das Gefühl hatten, etwas überstanden zu haben und nur nicht wussten, wie das Ende aussah, aber es konnte keinen Schrecken mehr haben, und jeder von uns hatte etwas Überraschtes im Gesicht. Ein Staunen.
    Wer so sehr die Gegenwart Gottes gespürt hat auf dem härtesten Boden, dort, wo es sich am wenigsten leben lässt, wo die Angst wie tausend Asseln kleine Löcher und Lücken sucht, um in einen einzudringen, wer einmal in diesem Feuerkreis, den Gott um einen ziehen kann, gelebt hat, dort, wo jeder anderen Macht der Zutritt verboten wird, der hat keine Worte mehr für Gott. Für den ist Gott wirklicher als ein Stein. Der kann phasenweise nicht mehr diskutieren über die Existenz Gottes, weil es absurd erscheint.
    Johannes hatte oft noch Schmerzen. Er nahm kein Morphium, er dämmerte nicht weg. Seine Schmerzblocker schlugen nur mittelgut an. Es war alles ganz real. Die Räume wurden nicht rosa, und er bekam auch keinen Heiligenschein. Aber, was wir alle erlebten, und nur so kann ich es mir erklären, warum wir irgendwann nicht mehr für ein Wunder beteten, sondern nur noch für Gottes Willen, war, dass die Ordnung der Welt dauerhaft aufgehoben war. Wir sahen und hörten, wie der Krebs um sein Recht kämpfte, wie er seinen Wirklichkeitsanspruch gefälligst beachtet haben wollte.
    Wir erlebten, dass Freunde von uns verständlicherweise für die Ordnung dieser Welt kämpften, indem sie kamen, um uns zu trösten, um Johannes noch mal Mut zu machen, dass er kämpfen solle, um ihn etwas aufzuheitern, ihn in die Welt zu holen, und Geschichtchen erzählten, um ihn als gesunden Menschen aufzubauen, und sie stießen auf eine verkehrte Welt. Auf die Welt, in der Johannes sie tröstete. Und sagte, er wolle anstatt zu plaudern lieber beten, und sie müssten keine Angst haben.
    Die Ordnung der Welt war aufgehoben. Die neue, von Gott gegeben, hatte eine Hierarchie, in der der Krebs ganz unten war. Und er schrie und tobte und heulte. So sehr, dass Johannes irgendwann zu ihm sagte: «Du kannst jetzt gehen. Ich hab alles gelernt, aber du kannst jetzt einfach gehen.»
    Eine Hierarchie war das, in der unsere Wünsche und unser Wille ganz klar da waren, ganz klar zählten, aber wir hielten sie auf einmal nicht mehr so hoch. Wir waren Könige in diesen Zeiten des Glücks, die sich in jenen Tagen vom Frühstück bis zum Abendbrot und in die Nacht hinein zogen. Nackte Könige, die ihre Reiche verloren hatten, und kein plauderndes Wort drang mehr an unser Ohr, niemand, der uns die neue Ordnung erklärte, aber wir glaubten ihr. Weil sie zu den Wahrheiten dieser Welt gehört.
    «Nur noch Gott», schrieb ich in mein Tagebuch.
    Nur noch Gott. Und so dachten und beteten wir uns nicht in einen Himmel hinein, sondern wir litten und freuten uns, wir warteten und liebten in seiner Gegenwart hier unten, wo wir Menschen alle sind. In der Welt. Die vollkommen offen war.

16
    «Johannes?» Er strahlt und grinst. Er steht vor meinem Bett, nein, nicht vor meinem Bett, vor der Couch im Wohnzimmer, auf der ich liege.
    «Hä? Warum grinst du so?», frage ich.
    «Du wolltest noch was von mir.»
    «Ja!», sage ich. «Genau! Ich hab dir doch erzählt, ich hatte
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