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Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht
Autoren: Esther Maria Magnis
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presse die Hand an meine Stirn, weil dahinter hohe kreischende Geräusche beginnen, wie kleine Zahnarztbohrer, aber es soll Musik sein, und das Arschloch, das dieses Orchester dirigiert, kenne ich. Der Clown tanzt.
    Und Johannes schreit durch den Hörer: «Das Scheißding ist bösartig», und er weint laut, wenn man das noch Weinen nennen kann. Ich stehe vom Bett auf, laufe in die eine Zimmerecke und in die andere und presse mein Ohr an den Hörer und reiße mir die Luft in die Lungen, als könnte ich damit meine Panik erschlagen.
    «Johannes, das ist etwas anderes als bei Papa», sage ich zitternd, «Gott hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten, dass dein Fuß nicht an einen Stein stößt. Hörst du. Das ist etwas anderes als bei Papa. Wir müssen keine Angst haben. Johannesle.»
    «Ja», sagt er leise und erschöpft.
    «Wo bist du? Hast du schon mit Mama gesprochen?»
    «Ich fahr heute hin. Die ist ja im Hüsle, is’ ja nur ’ne Stunde entfernt.»
    «Ja. Dann sag ich’s Steffi, okay? Ich bin gerad in Berlin auf ’nem Seminar. Die wohnt hier um die Ecke. Dann sag ich ihr das. Keiner von uns ist allein, siehst du. Es ist schon gesorgt. Du musst keine Angst haben. Was wollen die denn jetzt machen?»
    «Ich weiß nicht, ich krieg ’nen OP-Termin. Die müssen das rausschneiden. Ich hab im Internet nachgeschaut, Esther, das sieht echt scheiße aus.»
    «Wie heißt das?»
    «Malignes Melanom.» Er spricht das so ängstlich aus, dass mir übel wird.
    «Die gucken jetzt, ob die Lymphknoten befallen sind.»
    «Johannes?»
    «Ja.»
    «Weißt du was? Ich habe keine Angst vor dem Scheißdreck. Und du musst auch keine haben. Lass dich nicht davon verarschen. Du gehörst Gott, und der ist größer als dieser Fuck.»
    «Ja.»
    «Ich hab dich lieb.»
    «Ich dich auch.»
    Wir legen auf.
    Ich knie mich vors Bett.

12
    Als sie ihn operierten, sagten sie uns vorher, dass es sein könne, dass sein Gesicht für immer entstellt würde. Da das Melanom direkt an der Schläfe lag. Er wurde in den OP-Raum geschoben, und ich ging mit Mama und Steffi in die Kirche. Wir beteten. Nach einer Stunde gingen Mama und Steffi einen Kaffee trinken. Ich blieb. Ich konnte nirgends anders sein als vor Gott. Ich sagte ihm, dass ich meinen Bruder ganz haben wollte. Ohne faule Kompromisse, ohne ein hängendes Auge, ohne einen sabbernden Mund. «Ich will ihn so schön, wie du ihn geschaffen hast. Du bist der Gott. Führ die Hände vom Arzt, segne seine Finger, lass nichts an das Messer heran als deine Macht, lenke es an allem vorbei, was Johannes verletzt. Ich bin seine Schwester. Du kriegst meinen Glauben. Du kriegst meinen ganzen Glauben, aber bitte mach ihn heil.» Drei Stunden. Ich betete und schwieg, ich versuchte, ihn zu überreden, ich bettelte und heulte, ich wurde ruhig und wieder ängstlich, ich wurde tapfer und mutig, und dann wieder hilflos, und die ganze Zeit blieb ich damit bei Gott, bis der Tag anbrach, der in Gebeten zur größten Gnade gehört, die ich kenne. Wenn auf einmal das eigene Stammeln unterbrochen und alles in einem zur Antwort wird: Du bist Gott! Und es wird klar, dass man nichts mehr können muss. Weil die Liebe des Gottes zu Johannes größer und stärker, weil sie wahrhaftiger ist als meine.

13
    Auf der Straße in einer dieser lieblichen warmen Sommernächte, die es in Deutschland geben kann, saßen Johannes und ich, und Johannes sah schön aus. Die Naht, die von seinem Ohr am Unterkiefer entlanglief, war gut verheilt, das Haar war nachgewachsen, und die Mädchen sahen ihm wieder ganz normal hinterher und schmolzen. Wie sich das gehörte. Hinter uns wummerte Musik. Einer von Johannes’ besten Freunden stellte zwei Bier neben uns ab und rief, er müsse noch mal rein, da unten sei diese wahnsinnig scharfe Kellnerin, die sei, o Gott, sei die süß, die stehe eh voll auf ihn, hoffentlich, und er verschwand. Wir lachten. «Wenn hier gleich ein Mädchen schreiend aus dem Lokal rennt, wissen wir auch, wie sie aussieht», sagte Johannes.
    Ich war glücklich. Obwohl wir nur hier in dieser Stadt waren, weil wir morgen wieder ins Krankenhaus mussten, um mit dem Arzt zu sprechen. Nach der ersten OP hatte es Ruhe gegeben. Sie war gut verlaufen, es wurde alles entfernt. Ich zwang meine Familie dazu, in die Kirche zu gehen und «Lobe den Herrn» zu singen.
    An der Stelle, wo es heißt:
    … der dir Gesundheit
    verliehen, dich freundlich geleitet.
    In wie viel Not
    hat nicht der gnädige Gott
    über dir Flügel
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