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Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht
Autoren: Esther Maria Magnis
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den Boden hier so trocken gemacht hatte, dass er Risse bekam. «Aber», er hob den Arm, und aus dem weiten, herunterrutschenden Ärmel seiner Kutte wurde sein gestreckter Zeigefinger sichtbar, «wir sollen uns nicht fürchten.»
    «Ich fürchte mich auch nicht», sagte ich. Er nickte und lächelte und sah mich an. Ich musste grinsen. Dann lachte er. Ich auch.
    Eine Jüdin hatte mir einmal gesagt, als ich sie bat, mir etwas von Gott zu erzählen: «Wir sprechen seinen Namen nicht aus.» Da musste ich auch grinsen, genau wie bei dem alten Mönch. Weil ich das verstand und weil ich das schön fand.
    Der Gott der Muslime, las ich, habe 99 schönste Namen. Ich las den Namen «Al Haq», der Wahrhaftige, der die Wahrheit darstellt. Daran glaubte ich. Ich las «Asch-Schahid» – der Zeuge, der niemals abwesend ist. Daran denke ich, während wir im Bus durch die warme Nacht holpern. Man sieht die Lichter von Beirut. Papa wäre heute 70 geworden. Ich werde bald 24. «Al-Awwal», der Erste ohne Beginn, und «Al-Aachir», der Letzte ohne Ende, hatte ich gelesen. Seit zwei Jahren bete ich wieder.
    Ich muss während der Fahrt immer wieder an diese Grenze zu Israel denken. An dieses Land, das ich nur aus der Bibel kenne. Dort ist der Ort, an dem Gott, wie die Christen sagen, als kleiner Mensch in die Welt gekommen ist. Da sei das Blut von dem Gott geflossen.
    Meine alte Wut auf Gott habe ich in der Bibel wiedergefunden. Und ich habe dort auch gelesen, wie Gott einem Menschen geantwortet hat, als der ihn fragte, warum er so leiden müsse. Ich konnte es nicht fassen, als ich las, was da stand. Weil es genau das war, was ich kennengelernt hatte. Gott gibt diesem Menschen auf seine Frage hin keine Erklärung, er donnert ihn mit seiner Wirklichkeit an und fragt ihn über Seiten hinweg: «Wo warst du, als ich die Erde gründete, sage an, bist du so klug? (…) Wer verschloss die Meere mit Toren, als schäumend es dem Mutterschoß entquoll, als Wolken ich zum Kleid ihm machte? (…) Hast du je in deinem Leben dem Morgen geboten, dem Frührot einen Ort bestimmt?» Ich heulte, als ich das las. Ich konnte das gar nicht fassen.
    Das war der Gott, zu dem ich betete. Das war das Dröhnen und das «Du sollst» der Monate, bevor ich mich ihm zugewandt hatte. «Die kennen den», hab ich gedacht.
    Ich las andere Stellen in der Bibel, wo ich Gott nicht erkannte, wo er mir total fremd war. Diese Seiten habe ich dann übersprungen. Damals habe ich begonnen, durch die Bibel wie durch eine Landschaft zu stolpern. Wo ich nicht durchkam, kam ich nicht durch. Manchmal rannte ich dagegen an oder ging beleidigt weg. Wo es schön war, hielt ich mich lange auf. Wo es fremd war, hockte ich und wartete.
    Ich habe damals meine Klage in der Bibel gefunden, mein Gejammer und Gemotze, meine Verzweiflung.
    Am Neuen Testament hatte ich wenig Interesse. Aber irgendwann wurde mir beim Durchblättern etwas klar, was mir auf einmal größeres Vertrauen zur Bibel verschaffte als zu allen anderen religiösen Schriften: die vier Evangelien. Was mich erstaunen ließ, war nicht der Inhalt, sondern die Tatsache, dass dort ja angeblich von der Wirklichkeit Gottes als Mensch gesprochen wird. Jesus.
    Wenn ich eine Sekte gründen würde, dachte ich, dann würde ich meine Mitglieder schön sauber mit meiner Version einer Geschichte einnorden. Ich würde sagen: So und nicht anders war das. Ich würde ein sauber abgespecktes Evangelium mit meiner Propaganda schreiben, an das sich alle zu halten haben. Die Bibel war anders. Da stand die Geschichte von Jesus, und das war auch ästhetisch und buchmachermäßig extrem schräg, viermal nebeneinander. Wie Zeugenaussagen bei einem Unfall. Das war ein Umgang mit der Wirklichkeit, den ich mochte. Da gab es nicht nur eine Version, sondern gleich vier, die sich an manchen Punkten unterschieden. Das war irgendwie – echt. Wer sich an den Glauben an diesen Jesus herantastet, bekommt keinen Flyer mit einem Siebenpunkteplan, sondern der wandert durch Perspektiven. Der umkreist viermal das größte Geheimnis.
    Damals, als ich in dem Bus sitze und die Lichter von Beirut schon weit unter uns sind, während sich die alte ausgediente Mercedes-Schrottlaube über die Serpentinen in die Berge hinaufquält, wird mir klar, dass ich schon längst begonnen habe, anzunehmen, dass Gott nicht nur schweigt, dass er sich uns nicht nur zaghaft zuneigt, wenn unsere Seelen auf ihn antworten, dass er nicht nur in den Zimmern ist, wenn Menschen leise beten, dass er
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