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Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht
Autoren: Esther Maria Magnis
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den Momenten, wenn einer von uns Scheiße gebaut hatte und man sich schämte. Ich hielt seine Hand.
    Wenn ich daran zurückdenke, verspüre ich den Impuls, in mein Zimmer zu gehen und ins Kopfkissen zu schreien.
    Aber damals in dem dunklen Raum auf der Gästecouch war das Einzige, was ich empfand, Dankbarkeit. Ich habe keine Worte dafür, was mir Johannes ist. Noch weniger für den, der uns als Geschwistern Leben geschenkt hat. Ich lag nur da. Damals. In der Anwesenheit der Liebe, aus der wir kamen, in der wir schon vor unseren Geburten verwandt waren. Diese Liebe war Gegenwart. Und Gegenwart ist kein Begriff aus der Zeit, das habe ich schon geschrieben. Gegenwart ist immer die des Gottes. Und die berührt mich noch heute, so, dass ich nicht aufspringen und in mein Zimmer rennen kann, sondern sitzen bleiben muss und nichts mehr sagen kann.

    Im Treppenhaus vom Krankenhaus zogen wir uns am Geländer hoch. Immer noch viel Restalkohol, und wir bekamen Lachkrämpfe, weil wir wussten, dass der Arzt unsere Fahnen riechen würde.
    «Ihr seid unmöglich», sagte Mama und musste selber wahrscheinlich auch lachen, hatte aber viel zu viel Angst vor dem Termin. «Jetzt reißt euch halt zusammen.»
    Johannes war auf die Stufen gesunken vor Lachen. Das Bewusstsein, nicht lachen zu dürfen, macht es ja nicht gerade leichter, es zu unterdrücken. Aber im Krankenzimmer dann, als Mama bleich gegen den Schrank sank, als Steffi sich an dem Schränkchen rückwärts festhielt und Johannes seine Farbe im Gesicht verlor, als der Arzt sagte, dass man noch mal schneiden müsse, dass es sein könnte, dass man das halbe Gesicht wegschneiden müsse – da lachten wir dann ganz lange nicht mehr. Mehrere Wochen.
    Gott ist schrecklich. So schön er auch ist – so unendlich tief seine Liebe und Zuneigung zu den Menschen sein mag. Ich erschrecke vor Gott. Und die Schrecken aus der Zeit damals lassen mich in meinen Gebeten immer noch humpeln. Und es ist eine Lüge, die in manchen Kirchengemeinden verbreitet wird, wenn sie sagen: Wir haben keine Drohbotschaft, wir haben eine Frohbotschaft. Es ist nicht wahr. Es ist einfach nicht wahr.
    Gott hat sich in dieser Welt am Kreuz hinrichten lassen. Das gehört zu den dreckigsten Todesarten, die es gibt. Und Gott hat zugelassen, dass mein Bruder sich zu Tode erschrak. Und Gott hat gesagt, dass jeder sein Kreuz in dieser Welt auf sich nehmen und ihm nachfolgen soll. Es war nie die Rede davon, dass es hier witzig wird. Es war nie die Rede davon, dass uns allen die Sonne aus dem Arsch scheint. Unser Glaube, der Glaube der Christen, hat einen Schrecken. Unser Glaube macht «BUH!». Unser Glaube hat in sich das Wissen um den ganzen Dreck der Welt. Er hat einen Schrecken. So wie diese Welt. Und erst dann kommt die Frohe Botschaft. Vorher gibt es keinen Grund, dumm grinsend auf der Kanzel zu stehen und die Menschen, die echte Not haben, deren Ehen gerade kaputtgehen, deren Kinder krank werden, deren Geschwister sterben und Eltern dement werden, deren Herzen gebrochen werden, deren Stolz verletzt wird, mit einem weichen gemütlichen Gesäusel und Sozialkitsch einzulullen.

    Gott ist schrecklich. Gott brüllt. Gott schweigt. Gott scheint abwesend. Und Gott liebt in einer Radikalität, vor der man sich fürchten kann.
    Alle seine Jünger, bis auf einen, alle, die ihn geliebt haben, sind auf brutale Weise umgebracht worden.
    Und in dem Moment, als Gott Mensch wurde, als er dieser Welt in Fleisch nahe kam, da brachte er mit sich das große Kindermorden. So kam Gott in die Welt. Seine Berührung mit unserer Geschichte hat nicht nur Maria zum Lächeln gebracht. Sein Eintritt hat ein Drama hervorgerufen. Das muss er gewusst haben. Unsere Erlösung, die Verstrickungen zwischen Mensch und Gott, unsere Schuldgeschichte, die Entfernung zu ihm, all das ist wahrscheinlich schlimmer, komplizierter und ernster, als wir wirklich glauben.
    Ich verstehe Gott nicht. Das sage ich ihm auch. Und ich sage ihm, dass sein Anspruch an uns zu hoch ist. Dass wir zu klein für ihn sind. Dass er uns nicht so überfordern kann. Und wäre sein Wille nicht der Grund unserer Existenz, dann würde ich ihn hinterfragen, jeden Tag. Aber was wissen wir schon. Wer von uns hat sich selbst geschaffen. Vielleicht sind wir höher, stärker und größer, als wir tun. Als wir wollen.

14
    Noch drei Monate. Sagten sie. Johannes war 23, als seine Krankheit entdeckt worden war, und er war 23, als er hörte: noch drei Monate. Der Krebs hatte sich auf alle Organe
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