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Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht
Autoren: Esther Maria Magnis
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nicht mehr kapierten. Ein Freund erzählte mir später, Johannes habe ihm auf die Frage hin, woher sein Glaube kam, von dem Moment im Keller erzählt, wo er Gott angeschrien und dann gebetet habe. Da sei Gott auf einmal da gewesen. Dagegen habe er sich nicht wehren können.
    Das wusste ich damals aber noch nicht.
    Johannes war nun oft über Tage hinweg still, und als ich es nicht mehr aushielt und anfing zu heulen und ihm sagte, dass ich es nicht ertrage, nicht zu wissen, wie es ihm geht, dass er immer so schweigt, da sagte er zu mir: «Mir geht’s gut, Esther. Ich brauch viel Zeit. Ich bete eigentlich immer.»
    Und wenn er vor Schmerzen schrie und ich Panik bekam, daran meinen Glauben zu verlieren, und ihn dann beten hörte, in einer Weise, die ich nicht wiedergeben kann, dann verstand ich, dass ich nichts verstanden hatte. Dass Gott viel größer war als mein Hoffen, als das, was ich je über ihn sagen könnte, und dass ich keine Ahnung hatte, wie nahe Gott einem Menschen wirklich sein konnte.
    Und es war in diesen Momenten von Johannes’ Schmerzattacken, als ich anfing, meinem Gott dafür zu danken, dass er sich von den Menschen hat foltern lassen. Dass er selber geschrien hatte. Denn wäre das nicht so gewesen, ich hätte nicht mehr mit ihm sprechen können. Ich hätte vielleicht irgendwie höflich weiter an ihn geglaubt. Aber ich hätte auch gedacht: «Komm erst mal runter aus deinem Himmel. Leide erst mal, bevor du von uns den Glauben verlangst» – jetzt konnte ich das nicht mehr sagen.
    Gott hatte schon gelitten, und so, wie Johannes mit ihm sprach, wirkte es, als geschehe es jetzt gerade, als wiche ER keinen Zentimeter von dem Kind, das er liebte, als ließe er ihn nicht eine Sekunde aus den Augen, als hätte er sich vorgenommen, die ganze Zeit ununterbrochen nicht eine Sekunde eher seine Qual am Kreuz aufzulösen, als sie bei diesem jungen Mann, der da im Bett lag, andauerte. ER blieb und blieb und blieb. Und zwischendurch wandt Johannes sein Gesicht und sah ihn an – und für diese Momente, für diese Begegnungen habe ich keine Worte.
    All das sah ich. Bei all dem war ich dabei und bin Zeuge. Aber trotzdem – es war mein Bruder, es war Johannes, und die Vorstellung, dass er sterben könnte, dass von den drei Monaten, die der Arzt ihm prophezeit hatte, nun bereits einer weg war, das war so unerträglich, wie man es sich nicht vorstellen kann, und wenn man meint, man kann, dann potenziere man das mal tausend und lasse die Linie gegen unendlich laufen, dann findet die Seele vielleicht jenen hohen Ton, auf dem sie schreit wie ein abgestochenes Schwein, und jede geschriene Sekunde ist eine weniger von dem Menschen, den man liebt, und jede Sekunde, in der die Seele schreit, bringt einen näher an den Tag, an dem der kleine Bruder gewaschen wird, an dem seine Brust im Smoking zusammenfällt, an dem wir ihm Blümchen unter die weißen Finger klemmen und der Sarg hinausgetragen wird.
    Johannes bekam ein Bett im kleinen Salon, als er die Treppen nicht mehr laufen konnte. Ich schlief jede Nacht nebenan nur durch einen Vorhang getrennt im Wohnzimmer auf dem Sofa.
    Und eines Nachmittags rannte ich auf die Terrasse, auf den Schnee, und sagte zu Gott:
    «Mach keinen Scheiß. Das schaff ich nicht, Herr. Ich verlier meinen Glauben. Wenn du Johannes sterben lässt, dann verlier ich meinen Glauben. Ich weiß, du bist da. Ich weiß, du bist da. Mach, was du willst, ich will dir nicht drohen, ich will dir dienen, ich gehöre dir, Johannes gehört dir, aber ich weiß, ich verlier den Glauben, wenn Johannes stirbt. Das schaff ich nicht. Nicht Johannes. Bitte nicht. Nicht meinen Bruder. Du kannst alles von mir haben. Nimm meinen ganzen Glauben, zerschlag mir die Welt. Nicht Johannes.» Und was dann geschah, war, dass mein Glaube wuchs. Damit habe ich nichts zu tun. Der gehörte nicht mehr mir. Der kam einfach zurück und wuchs und wuchs und schlug aus, und ich raffte überhaupt nichts mehr. Seitdem kann ich nicht mehr sagen, warum ich an Gott glaube. Es ist kein Akt von mir.
    Zu Johannes ging ich einmal und weinte und sagte, dass ich Angst habe, dass er stirbt. Er nahm meine Hand, lächelte mich an und sagte: «Fürchte dich nicht, Esther. Glaube nur. Das ist alles.»
    «Ich hab dich lieb», heulte ich. «Ich dich auch», sagte er, «weißte eh.»
    Ich verstand nicht, woher dieser Glaube von Johannes auf einmal kam. Es war kein ängstliches Krallen an Strohhalme – es ging um Krebs, um Leben und Tod, da halten
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