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Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht
Autoren: Esther Maria Magnis
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gestürzt, und damit schickten sie ihn nach Hause. «Wir können nichts mehr für Sie tun. Es tut uns unendlich leid.»
    Ein paar Tage nach diesem Befund saßen wir beim Mittagessen. Es gab Suppe. Keiner sprach. Die alten Silberlöffel klapperten in den Tellern.
    Johannes stöhnte, weil ihm das Schlucken so weh tat, weil die Bestrahlung ihm den Hals verbrannt hatte. Von außen und innen.
    «Dazu ist der Mensch nicht geschaffen», sagte er auf einmal ganz leise. Er hatte aufgehört zu essen, sein Löffel lag in seiner Hand, er sah auf den Teller, und an seinen Wangen liefen die Tränen hinunter. «Dazu ist der Mensch nicht geschaffen.»
    Mama, mein Onkel und ich, wir hörten sofort auf zu essen.
    «Das erträgt kein Mensch.» Er sah vor sich hin, es war ihm völlig klar auf einmal. Das war das, was ihm völlig klar war. Und er wirkte fast erstaunt, und eine Träne nach der anderen rollte schnell über seine Wangen und fiel aus seinen Augen in den Teller. «Zu wissen, dass man sterben muss. Dazu ist der Mensch nicht geschaffen. Das erträgt kein Mensch.» Er knallte den Löffel auf den Teller, sprang auf, die Suppe schwappte über, ich dachte, dass ich kotzen muss, meine Mutter hatte kein bisschen Farbe mehr im Gesicht, sie war weiß, mein Onkel auch. Die erste Tür knallte. Die zweite Tür knallte, und dann kamen die Schreie aus dem Keller, und Mama hielt sich mit beiden Händen an den Armlehnen fest, die Schultern nach oben gezogen,und ihr Blick war so, als würde jemand ihre Augäpfel zerquetschen.
    Als das Klirren von Scheiben aus dem Keller ertönte, sprang ich auf und rannte runter und schrie flüsternd: «Gott! Hilf uns, Gott!» Mir zitterten die Knie und die Beine.
    «Gott!» Johannes’ Stimme überschlug sich. «Gott!» Ich hörte ihn in der Waschküche brüllen. «Wie laut muss ich noch schreien, dass du mich hörst? Was muss ich schreien, dass du mich endlich hörst?»
    Ich ging an der Wand vom Heizungskeller entlang wie ferngesteuert. Das Schreien kam näher, Glas klirrte. Stille.
    Um die Mauer. Um diese gekalkte Wand kam ich. Und da stand Johannes. Er sah auf seine Hand, die blutete – dann sah er auf. Und in seinem Blick war die Hölle, und darin lag: «Es gibt keinen Gott. Es ist alles verloren.» Es war das Schrecklichste, was ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. Ich griff nach seinem Arm und sagte: «Johannes, du musst jetzt beten», und zog ihn auf die Knie, da in die Mitte zum Betonboden, wo es ganz tief wurde, wo das Wasser sich sammelte, am Ausguss, und ich schloss die Augen: «Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Und wenn ich auch wandle in finstrer Schlucht, so geschieht mir kein Unheil, denn du bist bei mir. Du beschützt mich, o Gott, der du unser einziger König bist, hilf uns Elenden, wir haben keinen anderen Retter denn dich, und die Not ist vor Augen. Vater!» Meine Stimme erstarb kurz, weil ich so zitterte. «Vater.» Johannes kniete vor mir, den Kopf so tief gesenkt, dass ich seinen Nacken sah. «Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name.» Ich konnte kaum sprechen. «Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.» Johannes schwieg. «Unser tägliches Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.» Ich wachte nicht auf. Das war kein Traum.
    Betonboden. Grau. Eiskalt.
    Nur der Ausguss, der Betonboden. Und dann ein leises «Amen» von Johannes. Er sah erschöpft aus. Ich empfand Scham, dass ich ihn wie ferngesteuert auf die Knie gezwungen hatte. Wir gingen nach oben.
    Mama saß noch genauso bleich im Stuhl. Ich konnte ihr Gesicht nicht lesen, weil ich es nicht wiedererkannte. Unser Onkel heulte. «Das war gut!», rief er heulend, «das war richtig gut. Johannes. Das hat mal jemand sagen müssen. Das hast du gut gemacht.»
    «Die Fensterscheibe», sagte Johannes, «die habe ich kaputt gemacht.»
    «Ja. Das ist auch super. Das ist gut», sagte der Onkel, und irgendwie ging dieser Tag vorbei, ohne dass wir wahnsinnig daran wurden.

15
    Ich will von meinem Bruder nicht so viel erzählen. Weil es seine Geschichte mit Gott ist. Die habe ich nicht zu deuten. Ich weiß nur eins, und da bin ich nicht alleine. Meine Mutter und meine Schwester haben es auch erlebt. Johannes raste seit diesem Tag auf einmal mit einer Geschwindigkeit im Glauben voran, dass wir es
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