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Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht
Autoren: Esther Maria Magnis
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verwickeln ließe, als wär ich ein trainierter Mann, der nach ein paar Tagen erholt wäre von so einem Schlag, als zerrisse es mir nicht meine Gefäße, als habe die Faust mich verwechselt, so kann es niemals gemeint gewesen sein, dass man ein Kind mit so einem Schlag zum Kotzen bringen will.
    «Das glaub ich aber nicht», so knallte er raus, und aus meinen Augen spuckte es ein paar Tränen hinterher, und beim nächsten Atemzug glaubte ich es wirklich nicht mehr, aber mein Körper musste sich noch erholen. Der war nämlich auf einmal eingeschlafen, wie ein abgequetschter Fuß.
    Überall um mich herum weinte und schluchzte es. Mama, Steffi, Papa, Johannes, wie Kinder aus verschiedenen, fremden Familien, die man nackt in einen eiskalten Raum gesetzt hatte, die Tür geknallt, und jeder hatte sich ganz speziell erschrocken. Wie Kinder, die sich nicht gegenseitig trösten können. Das Porzellan vom leeren Teller glänzte weiß. Ich hatte einen der Teller bekommen, in den keine rosa Blüte gemalt war.
    Dass er kämpfen würde für uns, sagte Papa mit seinem Kopf zwischen den Händen, und dann sah er auf, direkt zu mir, mit rotem, nassem Gesicht, laufender Nase, und die Zähne waren aufeinandergepresst und eine Hand zur Faust geballt. «Ich werd kämpfen gegen diesen Scheißkrebs», und spuckte fast bei dem Wort «kämpfen». «Das versprech ich euch, das schwör ich euch, dass ich kämpfe, bei euch zu bleiben», und sah mich an, als hätte er mich weinend um Vergebung gebeten.
    Sein Vater war gestorben, als er siebzehn war. Er wusste viel besser noch als wir Kinder, gegen welchen Horror er für uns kämpfen wollte.

4
    Meine Erinnerung setzt erst eine Woche später wieder ein. Auf dem Berg. Mitten im Gehen, im Blick auf meine Stiefel. Weiter zurück komme ich nicht. Ein Schritt also. Unter meinen Schneestiefeln knirscht es, und der Wind pfeift, und die feinen, klirrend kalten, glitzernden Kristalle in der Luft stechen im Gesicht.
    Ich rieche meinen Schal vor der Nase. Er riecht nach dem Schränkchen, in dem er das Jahr über liegt, wenn ich ihn nicht benutze, nach Papas Mützen und seinem Rasierwasser, und nach Mamas Lederhandschuhen, und nach dem Haar meines Bruders, nach unserem Hund, nach meiner Schwester. Wir sind weg von zu Hause. Wir sind sieben Stunden in den Schwarzwald, ins Hüsle gefahren. Ins Haus meiner Großmutter. In den Bergen.
    Und jetzt gehen wir da, wo sonst die Matten sind. Hoch oben. Nur Weideflächen, die brach und unberührt weit über den Dörfern liegen. Da ist keiner. Feiner Schnee wird über die Bergkante gewirbelt, und ich habe keinen einzigen Gedanken. Und auch als wir alle oben an der Kuppe stehen, Mama, Papa, Steffi, Johannes und ich, und als wir das Foto machen, da habe ich auch keinen Gedanken. Wer hat dieses Bild eigentlich gemacht? Weiß ich nicht. Vielleicht war es Selbstauslöser. Ich weiß nicht, wie ich gucken soll. «Das letzte Familienporträt», geht es mir durch den Kopf, und dann ist es wieder still darin. Und der Wind pfeift die ganze Zeit, und man kann nicht sprechen, weil es so kalt ist, und man wundert sich kurz, warum es so blendet, obwohl man die Sonne nicht sieht, weil eigentlich überall Wolken hängen, und da, wo sie nicht sind, ist Schnee. Weiße Berge, weißer Himmel. Wir gehen an drei uralten, knorrigen Bäumen vorbei, die ich kenne, seit ich klein bin. Sie sind krumm. Sie sehen so aus, als wehte der heftigste Sturm, und auf der einen Seite wachsen fast keine Äste, auf der anderen scheint es, als würden die Äste von irgendetwas angesaugt werden. Wie Frauen, denen der Wind die Haare auf dem Hinterkopf scheitelt und sie nach vorne reißt, wo sie waagerecht flattern.
    Irgendwo dort oben merke ich es. Irgendwo dort oben, während ich beim Gehen auf meine Stiefel und den Schnee schaue. Dass etwas in mir schon längst, die ganze Zeit, an Gott denkt. Nur der Kopf bleibt leer dabei.

5
    Aufgewacht. Vor mir verschwimmt es grünlich weiß. Der Wandteppich. Bett im Bubenzimmer, denke ich. Und das ist der Wandteppich. Hüsle, denke ich, und dann: «Ich will Papa behalten.»
    Ich bleibe noch etwas im Bett liegen, weil ich erst richtig wach werden muss und der Rest vom schlechten, bleiernen Schlaf wenigstens aus meinem Kopf und den Armen verschwinden muss, damit ich mich aufsetzen kann. Steffi liegt an der Wand mir gegenüber im Bett. Ich sehe meinen Atem. So kalt ist es. Wir schlafen in der kleinen Dachkammer. Im Bubenzimmer. Wo meine Onkels als Kinder geschlafen haben.
    Mit
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