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Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht
Autoren: Esther Maria Magnis
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alles abläuft, wenn was läuft.
    Bleibt die Frage, warum man überhaupt noch betet. Höflich sein kann man schließlich auch noch am Sonntag in der Kirche. Mit einem Knicks vorm Tabernakel.
    Dieses Hindenken und Herfühlen, dieses «Wie ist Gott?», was ist eventuell in seinem Sinne, was ist in meinem Sinne, was kann man hoffen – all das fehlte damals nach der Nachricht, als sich das Gebet in mir meldete. Meine Gedanken waren plattgehauen durch den Schock. Was einen Erwachsenen von einem Gebet hätte abhalten können, schwieg. Die Vernunft, die gegen den Wunsch zu beten spricht, war nicht da. Die Vernunft, die einem sagt: «Jetzt erst mal vernünftig bleiben. Man darf sich nicht falschen Illusionen hingeben. Wunder geschehen vielleicht, man darf darum bitten, aber du weißt ja selbst: Dein Hund wurde auch eingeschläfert, obwohl du gebetet hast, der Nachbar ist auch gestorben, obwohl er fromm war. Sicher, ja, vielleicht gibt es Gott, aber zu glauben, dass er in die Welt eingreift, das ist doch bloßes Wunschdenken. Man kann doch mit solchen Dingen umgehen, ohne sich an Strohhalme zu krallen. Damit würde man ihm auch nicht gerecht. Jetzt machen wir erst mal die Chemotherapie …»
    Mit fünfzehn gibt es nicht so viele Wenn und Aber. Es gibt sie schon, aber im Glücksfall sind sie tanzende, bewegliche Fragen und nicht in Blei gegossener Zweifel, aus dem die vermeintliche Vernunft zu spät ihren Fuß gezogen hat, mit einem Bein feststeckt und denkt, wenn sie kräftig mit den Armen wedelt, sei dies schon ein geistreicher Tanz.
    Ich dachte also nicht viel hin und her. Ich merkte, wie in mir an verschiedenen Stellen ein leises Drängen begann. Das ließ ich geschehen. Es wurde größer. Dann sagten meine Gedanken «Ich will beten», und mein Herz sagte «Ja, genau, ich auch», mein Bauch sagte «Wollt ich auch grad sagen», und meine Zunge sagte «Ich frag mal Steffi und Johannes, ob wir zusammen beten wollen», und meine Vernunft sagte «Ach nee, jetzt noch nicht. Dazu passe ich den richtigen Moment ab».
    Der war dann abends in der Küche einen Tag später, nachdem ich einig geworden war.
    Ich sagte also in der alten Küche meiner Großmutter, während ich mit den Geschwistern die Holzbrettchen vom Abendbrot abtrocknete: «Ich will beten.» Meine Schwester hielt beim Spülen inne und sagte: «Ja, genau, ich auch», und mein Bruder: «Wollt ich auch grad sagen.» Mehr nicht. Es streckte sich in ihnen schon in die gleiche Richtung aus wie bei mir. Das war einer der Momente in unserm Leben, in denen wir drei am einigsten waren.
    «Wo?», fragte Steffi. «Oben auf dem Dachboden?»
    Ja.

6
    Der Eisengriff der Tür war eiskalt, der ganze Raum dort oben war so kühl wie der Schnee, der auf seinem Dach ruhte. Im Dunkel sah man die Umrisse von Truhen und Schränken, darin noch heute alte weiße Mieder, lange Unterhosen und Babyhäubchen unter vergilbten Zeitungen aus den Zwanzigern aufbewahrt werden. Die Luft war so kalt und frisch, dass man das Gefühl hatte, der Staub ruhe auf dem Boden und den Möbeln. Unaufgewirbelt. Man roch ihn trotzdem matt.
    Wir versuchten, leise zu sein. Wir wollten nicht gehört werden von den Erwachsenen. Das hatte ich schon länger nicht gemacht: dieses leise Auftreten, dieses Suchen auf den Dielen mit den Füßen, durch die Wollsocken hindurch fühlend, wo die Stelle ist, die nicht knarzt.
    Keiner von den Erwachsenen wusste, dass wir gemeinsam beten wollten. Wir hatten es ihnen nicht gesagt. Den Eltern nicht, der Großmutter nicht, nicht den Tanten und Onkels. Es war zu intim. Und als wir über die unebenen Dielen stiegen, war ich besorgt, es könnte jemand kommen und uns fragen, was wir vorhaben, oder uns drei im Dunkeln beim Beten finden. Das wäre mir peinlich gewesen. Da hätten wir uns wahrscheinlich alle geschämt. Wir hatten vor, für ein Wunder zu beten, obwohl wir gelernt hatten, die Wundergeschichten Jesu so zu interpretieren, dass nichts mehr von einem Wunder drin vorkam. Jesus konnte nicht über das Wasser laufen, das war ’ne Sandbank. Jesus hatte Blinde nicht sehend gemacht, er hatte ihnen nur die «Scheuklappen» (ich kriege eine Gänsehaut, während ich das hinschreibe) von den Augen genommen, damit sie die Not der anderen Menschen sehen konnten – ihrer Nachbarn zum Beispiel. Jesus hatte nicht Lazarus von den Toten aufgeweckt, er hatte ihn nur aus seiner «Isolierung, aus seiner selbstverschuldeten sozialen Kälte» herausgeholt, in die «Gemeinschaft» (kotz, würg)
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