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Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht
Autoren: Esther Maria Magnis
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manchmal.
    Was es gäbe, anstelle von Schuld, das seien nur schlechte Gene und schlechte Kindheitserfahrungen. Sagte man. Und dass dieses altmodische Schulddenken aber immer noch kursiere, dass man immer noch Sündenböcke suche, daran wiederum sei die Kirche, ja, das müsse man jetzt einfach mal so sagen, schuld. Ah ja.
    Einer Meinung waren Kirche und Gesellschaft vor allem im Hauptanliegen: richtiges Verhalten. Die Kirche begründete ihre Auffassungen immer mit Interpretationen von Jesu Worten. Die Gesellschaft – weiß ich nicht – mit Werten, die wohl irgendwo standen, die man mal aufgeschrieben hatte. Ich verlor das Gespür dafür, was Gott von mir wollte im Leben, unabhängig von Verkehrsregeln, dem Grundgesetz, sozialen Aktionen und einem Herzen, das nicht total verkorkst ist. Manchmal betete ich noch zu ihm. Hielt still, horchte.
    Manchmal saß ich in meinem kleinen rosa Zimmer, allein auf dem Bett, nebenan machte Papa Mittagsschlaf, Mama war unten in der Küche, man hörte die Töpfe klappern, man hörte Steffi telefonieren, und meine Gedanken wurden ein Gebet. Das rührte an einen Ton. Selten, aber manchmal ging die Welt kurz auf, und ein uneingeschränktes, vollkommenes «Ja» stimmte zu, obwohl ich nichts tat und sagte, außer auf dem Bett zu sitzen. Einfach nur Ja. Und wenn ich ehrlich bin, dann fand ich das auf Dauer, auch wenn es schön war – wenig.
    Denn «Gott will nicht frömmelnde Gebete, er will Taten sehen», hatte ich gelernt.
    Und dieser Geist hatte meinen Glauben verseucht.

3
    Vor uns die leeren Teller.
    «Kinder.» Papa sah uns nicht an – ganz kurz vielleicht nur. Wahrscheinlich, weil er seine Augen nicht in unseren verhaken wollte, um uns nicht mit in den Schlund zu reißen, der dahinter begann. Wir saßen mittags an dem runden Tisch im Raum neben dem Weihnachtszimmer. Ich war fünfzehn Jahre alt.
    In dem Raum standen die ältesten Möbel. Es gab damals noch eine kleine Klappe in der Wand für den Aufzug, der zur ehemaligen Küche im Keller führte. Draußen war es so still wie immer am ersten Weihnachtstag, weil alle Familien dann immer in Zimmern zusammen sind. Ich saß auf der anderen Seite des Tisches, hatte den Erker im Rücken. Dort hingen die alten Schwarzweißaufnahmen meiner Großonkel und Großtanten und die großen runden Gemälde, auf denen meine Urgroßmutter mit ihrem Mann lächelte und meine Ururgroßeltern etwas strenger schauten. Links von mir saß Johannes in der Nähe des Vorhangs am Durchgang zum Weihnachtszimmer. Steffi saß rechts von mir. Mama hatte die Suppenschüssel auf den Tisch gestellt und sich schweigend neben Papa gesetzt. Er hatte fast Glupschaugen.
    «Kinder.» Noch drei Sekunden lang.
    «Wir müssen euch etwas ganz, ganz, wir müssen euch», seine Augen und Stimme brachen in Tränen, und wir starrten ihn erschrocken an. Papa weinte nie, er schluchzte nie.
    Mama griff ohne aufzusehen nach Papas Hand, sie griff richtig fest, wir waren schon versteinert, und ich sah auf den Scheitel ihres geneigten Hauptes, auf die weiße Linie zwischen dem schwarzen Haar. Von da kam es leise «Wir müssen euch etwas sehr Trauriges sagen», und Papa unterbrach sie wieder mit Schluchzen, fing sich, und ich atmete nicht, weil es mir schien, als wüchse da ein Albtraum in den Raum, aus den Wänden herein, die sich auflösten und nur noch den runden Tisch mit uns daließen, der im Dunkeln schwebte. Der sich genauso schnell auch zurückziehen könnte, wieder Wände fest am Boden halten und das Zimmer Zimmer sein ließe. Aber dann sagte Papa, dass er bald sterben müsse. Dass der Arzt schlechte Nachricht gehabt hätte und er unheilbaren Krebs hätte und nichts mehr für ihn getan werden könne.
    Meine Schwester schrie leise auf, sie weinte nicht, nur ihre Stimme kletterte so hoch, als käme sie aus der Nase, nein, noch höher, aus den Augen, aus der Stelle zwischen den Augen. «Was hat er denn gesagt? Was hat er denn gesagt? Was sagt der denn? Was sagt denn der Arzt?»
    «Drei Wochen oder drei Monate», sagte Papa, und ich hörte meine Schwester aus zwanzig Metern, ach, noch weiter weg, von ganz weit her weinen, und, nein wimmern, und mein Bruder, auch so weit weg, weinte, und Papa auch, und in mir wanderte der Stein aus dem Magen in den Hals, der Stein, der in meinen Bauch geboxt worden war, so, als sei ich kein Mädchen, sondern ein Kerl mit einem Messer, den man so schlagen könne und müsse, als hätte ich nicht einen weichen Bauch, der sich niemals in Faustkämpfe
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