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Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht
Autoren: Esther Maria Magnis
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einem Arm aus dem dicken Federbett gestreckt, versuche ich, den kleinen stinkenden Elektroofen anzumachen. Und als ich den Knopf berühre, denke ich: «Ich will Papa behalten.»
    Ich greife nach den Wollsocken neben dem Bett, ziehe sie mir unter der Decke an. Stehe auf, wickle mir eine Decke ums Nachthemd, halte sie mit einer Hand fest, während ich die Klinke der Zimmertür runterdrücke. Ich will Papa behalten, denke ich leise. So leise, wie ich die Tür öffne, um Steffi nicht zu wecken. Und beim Zähneputzen, als ich in den Spiegel schaue, weiß ich ganz ruhig, dass ich Papa behalten will. Ich spucke die Zahnpasta ins weiße Waschbecken, spüle den Mund aus, «Ich will Papa behalten». Und ich gehe die Treppe runter, es knarrt, «Ich will Papa behalten», und noch ein Schritt, und ich will Papa behalten, und ich komme unten an und will Papa behalten, und als ich die Tür aufmache zur Stube, will ich Papa behalten, und dann – da sitzt er am Tisch, die Sonne glänzt in seinem Haar, mir erstickt ein Satz im Kopf.
    Ich geh zu ihm, er öffnet die Arme, wir drücken uns. «Morgen», nuschel ich in seinen Pulli. «Morgen, mein Estherle», sagt er. Ich setz mich ihm gegenüber.
    Und als ich die Kakaotasse an den Mund bringe und einen Schluck trinken will, kann ich nicht, setze die Tasse wieder ab. Ich will Papa behalten, und sehe auf meinen Teller. Ich will Papa behalten. Ich sage es ihm nicht. Weil er kämpfen will und alle Kraft braucht.
    Und so ging es Tage, und beim Blinzeln in die Sonne, und während die gelbe Butter unter dem Messer hervorquoll und ich sie auf das Brot presste und verteilte, wollte ich Papa behalten, und während ich abends im Bett lag, den Elektroofen roch und das Rauschen des Baches vorm Haus hörte, und meine Schwester noch leise «Schlaf schön, Esther» flüsterte, wusste ich und sagte es überall in mir: «Ich will Papa behalten.» Der Satz spross hinter meiner Stirn und im Herzen, er öffnete sich in meinem Bauch, er zog in meine Füße, er wuchs aus meinen Fingernägeln, er verlängerte mein Haar und lag im Schweiß auf der Haut. Er webte sich selbst entgegen und schloss sich zusammen. Seine Zipfel flatterten zwischendurch kurz, «Ich will Papa behalten», das spürt man für Sekunden ängstlich in der Kehle und beim Atmen. Ich nahm ihn wahr, als er fast ganz zusammengewachsen war, wenn er sich leicht blähte, und ließ ihm seine Bewegung. Er drehte sich langsam. Wie ein großes ausgespanntes Segel. Ich ließ es gewähren. Und als es aufhörte, sich zu bewegen, dachte ich: «Gott.»
    Und war ausgerichtet.
    Das ist das Elegante und Leichte an der Jugend, dass sie noch Dinge mit sich geschehen lassen kann.

    Dieses Gebet, oder wie man es nennen will, was da entstanden war, unterschied sich von allen anderen Hinwendungen, die ich bis dahin zu Gott getan hatte.
    Ich war das Gebet. Ganz. Ich wollte mit allem, was ich war, dass mein Vater überlebt. Es war eben nicht so wie sonst, dass in mein Bitten Gedanken gestrickt waren. Ich zensierte mich nicht, so wie sonst.
    Wenn ich in einen Jungen verknallt war und mir wünschte, dass er auch in mich verknallt ist, gestand ich Gott zu, dass es auch der falsche Junge sein könnte. Dass Gott es wahrscheinlich besser weiß als ich, aber «trotzdem, bitte, hoffentlich, es wär so schön, wenn du willst, also ich persönlich würde es mir sehr wünschen, ach, Mann, ich lieb den so, lieber Gott, bitte, mach, dass er mich auch liebt. Dein Wille geschehe, aber bitte mach, bitte, bitte mach, dass er mich endlich knutscht».
    In solchen Fällen wünschte ich mir etwas, und dann dachte ich etwas, und dann kam irgendeine durchschnittlich humanistische, mitteleuropäische Neunziger-Jahre-Moral dazu, dann unterhielten sich Kopf und Herz und einer von unseren hochgeschätzten Bäuchen – nämlich meiner –, auf den ich angeblich hören sollte. Dann drehte und wendete ich den Wunsch und fragte mich, ob es überhaupt ein guter Wunsch ist, ob es für mich gut ist, ihn zu haben. Dann fragte ich mich, ob Gott wohl auch so einen Wunsch für mich hat. Dann merkte ich, dass es mir eigentlich wurscht ist, wenn Gott einen anderen Wunsch hat, weil er mich nervt mit seinen ganzen anderen Wünschen, die man ja eh nur ahnen kann oder aus der Bibel zusammenbauen muss. Aber trotzdem gibt es ihn, und er hat was mit meinem Leben zu tun, also beten wir mal eingedenk dieser Verstrickungen, ohne zu wissen, was man erwarten darf und nach welchen Kriterien das hier mit ihm eigentlich
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