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Goldener Reiter: Roman (German Edition)

Goldener Reiter: Roman (German Edition)

Titel: Goldener Reiter: Roman (German Edition)
Autoren: Michael Weins
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Flammen von den Kerzen spiegeln sich in der Fensterscheibe.
    Ich höre weihnachtliche Musik. Ob meine Mutter zuhört, weiß ich nicht. Ein Mädchen singt Josef, lieber Josef mein . Das ist mein Lieblingsweihnachtslied. Es rauscht und knackt, während das Mädchen singt. Das kommt, weil die Schallplatte alt ist. Die Platte hat keine Papierhülle mehr. Sie steckt direkt in der Plattenhülle. Ich sehe mir die Plattenhülle an. Es ist ein Mädchen mit dicken Backen abgebildet. Das Mädchen lächelt. Vor sich auf einem Tisch hat es Nüsse und einen Nussknacker liegen. Das Mädchen hat dicke rote Backen, weil es zu viel Nüsse gegessen hat. Es hat eine Nuss nach der anderen geknackt und in sich hineingestopft. So würde ich es zumindest machen. Vielleicht hat es auch erst alle Nüsse auf Vorrat geknackt und sie sich dann auf einmal in den Mund gestopft. Ich weiß nicht, was ein Nüsse essendes Mädchen mit Weihnachtsliedern zu tun hat.
    Das Telefon klingelt. Meine Mutter guckt von ihren Händen hoch. Sie blickt aus dem Fenster.
    Jonas Fink, sage ich.
    Hier ist Oma, sagt meine Großmutter.
    Hallo Oma, sage ich.
    Wie geht es euch denn?, sagt meine Großmutter.
    Gut, sage ich. Wir sitzen da und feiern Advent.
    Das ist aber schön, sagt meine Großmutter. Schön.
    Wie geht es dir?, frage ich.
    Gut, sagt sie. Gut. Ist denn die Mama auch da?
    Mama, sage ich. Ich trage das Telefon ins Wohnzimmer. Meine Mutter sitzt aufrecht auf dem Sofa. Oma ist am Telefon.
    Meine Mutter nimmt den Hörer mit weißen Fingern. Hallo, Mutter, sagt sie.
    Ich gehe in die Küche, um eine Packung Lebkuchenherzen aufzumachen, gefüllte Lebkuchenherzen.
     
    111
    Wir sitzen bei Dirk im Zimmer auf dem Fußboden. Dirk hat das Piratenschiff von Playmobil zum Geburtstag geschenkt bekommen. Er hat kurz vor Weihnachten Geburtstag. René spielt nicht mehr mit Playmobil. Ich habe meine Engländer und meine Franzosen und meine Amerikaner in einer Plastiktüte mitgebracht.
    René sitzt auf einem Stuhl. Dirk und ich sitzen auf dem Fußboden. René spielt ein Telespiel, bei dem ein Affe einen Baum schütteln und die Bananen auffangen muss, die hinunterfallen. Man muss schnell sein. Das Telespiel piept. Ich baue meine Soldaten auf. Dirk hat sich das Schiff zwischen die Oberschenkel geklemmt. Dirk hat das Schiff. Es ist sein Schiff, deshalb darf er bestimmen. Ich hätte gerne das Piratenschiff für meine Soldaten. Dirk richtet seine Kanonen auf dem Deck aus. Ich hole das Gespenst aus der Packung.
    Was ist das denn?, fragt René von oben, von seinem Stuhl aus.
    Das ist das Gespenst, sage ich.
    Oh, das Gespenst, sagt René. Er macht sich darüber lustig.
    Ja, sage ich.
    Fang Bananen und schweig, sagt Dirk.
    Das Gespenst habe ich von meiner Mutter zum Nikolaus geschenkt bekommen. Obwohl ich es mir nicht gewünscht hatte. Ich hatte mir eine Schallplatte gewünscht. Ich habe die Schallplatte bekommen, aber auch das Gespenst. Zu Nikolaus bekomme ich eigentlich nur ein Paar dicke Socken geschenkt, normalerweise. Warme Socken, für den Winter. Früher waren es Socken aus brauner Wolle, die meine Oma selbst gestrickt hat. Meine Oma hat auch immer braune, selbst gebackene Kekse geschickt. Kekse aus der DDR. Die Kekse sind immer schlecht geworden, weil sie keiner aufgegessen hat. Nur meine Mutter hat davon gegessen. Meine Mutter isst immer alles, weil sie nach dem Krieg als Kind so hungrig gewesen ist. Jetzt bekomme ich normale graue Socken aus dem Kaufhaus. Die Socken hängen morgens an meiner Zimmertür. Sie sehen aus wie dicke Würste, weil sie mit Süßigkeiten gefüllt sind. Nougat mag ich am liebsten. Aber es ist immer auch Blätterkrokant in den Socken. Warum, weiß ich nicht. Meine Mutter weiß genau, dass ich keinen Blätterkrokant mag. Vielleicht mag sie selber Blätterkrokant am liebsten. Vielleicht kommt er noch darauf, denkt sie, vielleicht mag er es ja endlich dieses Jahr. Ich weiß es nicht. Dieses Jahr habe ich auch eine Schallplatte bekommen und das Gespenst. Das Gespenst ist von Playmobil. Es ist neu, das gibt es noch nicht lange. Es ist ein weißer Playmobil-Mann, der einen Gespensterüberzug aus Plastik trägt. Am Fuß von dem Gespenstermann kann man eine Plastik-Fußfessel befestigen. An die Hände kann man Plastikketten machen, mit denen das Gespenst herumschlenkert. Eigentlich wollte ich es gar nicht mitnehmen, weil es etwas für Kinder ist. Aber das Gespenst leuchtet im Dunkeln, wenn man es vorher unter eine Lampe gestellt hat. Und man kann damit aus dem
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