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Goldener Reiter: Roman (German Edition)

Goldener Reiter: Roman (German Edition)

Titel: Goldener Reiter: Roman (German Edition)
Autoren: Michael Weins
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springen. Ich weiß, dass meine Mutter neben mir auf demselben Tisch steht. Ich frage mich, wer wen an der Hand hält.
    Prost Neujahr, sagt meine Mutter.
    Sie drückt meine Hand und ich öffne die Augen. Auf dem Bildschirm sieht man Raketen pfeifend in den Himmel steigen. Die Kirchenglocken läuten, im Fernsehen und in echt.

Nachwort: Das Jahr der Zwiebel
    An der Umgehungsstraße,
    kurz vor den Mauern unserer Stadt,
    steht eine Nervenklinik,
    wie sie noch keiner gesehen hat.
    Sie hat das Fassungsvermögen
    sämtlicher Einkaufszentren der Stadt.
    Gehn dir die Nerven durch,
    wirst du noch verrückter gemacht.
    Hey, hey, hey, ich war der goldene Reiter.
    Hey, hey, hey, ich bin ein Kind dieser Stadt.
    Hey, hey, hey, ich war so hoch auf der Leiter,
    doch dann fiel ich ab.
    Joachim Witt, Goldener Reiter
     
    Jede Autorin, jeder Autor, jede Besucherin von Lesungen kennt das. Immer werden am Ende die drei obligatorischen Fragen gestellt: Woher nehmen Sie Ihre Inspiration? Können Sie vom Schreiben leben? Ist das autobiografisch?
    Und immer erleben Autoren die Frage nach dem autobiografischen Hintergrund als besonders lästig. Spielt es für die literarische Qualität eines Textes wirklich eine Rolle, ob ihn sich einer ausgedacht hat oder nicht? Lässt sich das überhaupt auseinander halten? Was heißt schon ausdenken? Speist sich nicht alles aus irgendwelchen Quellen? Fiktionalisieren wir nicht sowieso ohne Unterlass unser eigenes Leben? Erzählen wir uns nicht sowieso im konstanten Selbstgespräch von unserem Dasein, suchen den Reim auf Leuchtturm-Momente und Alltag?
    Als vor über zehn Jahren mein Roman »Goldener Reiter« erschien und ich die ersten Male aus dem Buch vorlas, erlebte ich die Frage nach dem autobiografischen Hintergrund des Erzählten mit besonderer Anspannung. Und ich glaube, den Zuhörerinnen und Zuhörern ging es ebenso. Sie wollten wissen, wie viel Jonas Fink steckt in Michael Weins. Bin ich der Ochsenzoll-Sohn meiner Ochsenzoll-Mutter?
    Ich habe mich damals gewunden. Ich habe versucht, nicht direkt zu lügen. Ich habe aus verschiedenen Gründen versucht, die Wahrheit mit verschiedenen Mitteln zu verschleiern. Mir war sogar dazu geraten worden. Ich habe auf meinen Beruf als Psychologe, der mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, und die damit verbundenen Erfahrungen verwiesen, die detaillierte Kenntnis von Psychiatrien und ähnlichen Orten. Ich habe über meine Kindheit in den 80er-Jahren gesprochen und die allgemeine Atmosphäre, die ich damals wahrgenommen habe. Ich habe einen spielerischen Umgang versucht, habe geantwortet: zu 26 %, was jede weiterführende Frage erstickte. Und ich kam mir dabei clever vor. Aber ich habe gelogen, denn in Wirklichkeit sind es 89,2 %.
    Ich habe damals keine schlichte Antwort gegeben. Denn die schlichte Antwort lautet: Ja.
     
    Für die Lüge oder das Verschweigen gab es verschiedene Gründe, und sie haben mit dem Thema zu tun. Der erste Grund lautet: Scham. Und der zweite Grund lautet: Scham (wie beim Fightclub). Und die anderen vermutlich auch. Scham. Ich schämte mich für dieses Buch. Und ich schämte mich für meine Kindheit. Ich schämte mich für meine Mutter, die ich liebe. Und ich hatte Angst, dass ich nachher nie wieder ein literarischer Autor sein dürfte, sondern nur noch der Sohn der Verrückten, der Geisteskranken, möglicherweise selber nicht ganz dicht. Aber es war nun einmal die Geschichte, die ich zu erzählen hatte. Ich hatte damals diese und keine andere. Und die Geschichte schien mir gut. Und ich hatte eine Sprache gefunden, sie zu erzählen.
    Ich bin Schriftsteller. Damals war ich Psychologe, heute bin ich Psychotherapeut. Und jetzt gibt es das Buch noch einmal, nach über zehn Jahren. Und diesmal will ich die Chance nicht verpassen. Ich will die Wahrheit sagen, unbedingt. Obwohl ich mich immer noch schäme. Ich spreche diese persönliche Wahrheit aus, weil ich weiß, dass es viele gibt, die sich ebenso schämen wie ich. Für ihren Bargfeld-Steegen-Papa oder was weiß ich. Die glauben, dass sie schuld sind und dass sie etwas verbergen müssen. Den Alkoholismus, die Depression, das Messietum, die Zwangsstörung oder einfach nur normal verkorkste Eltern. Oder eben eine Mutter mit paranoider Schizophrenie, wie ich. Solche, die jeden Tag lächelnd über Leichen in die Schule gehen, und keiner weiß Bescheid. Denen die Fassade alles ist, weil sie Schutz verspricht und Sicherheit bietet.
     
    Dieses Buch ist ein Roman. Es ist immer noch keine
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