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Goldener Reiter: Roman (German Edition)

Goldener Reiter: Roman (German Edition)

Titel: Goldener Reiter: Roman (German Edition)
Autoren: Michael Weins
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neben mir. Sie singt direkt neben mir. Ich singe nicht. Es bleibt kein Platz für mich zum Singen, wegen meiner Mutter. Die ganze Kirche hört auf die Stimme meiner Mutter. Was ist das für ein fürchterlicher Gesang?, denken die Leute. Das kommt doch von der Frau neben dem Jungen. Ist das nicht die Frau, die in Ochsenzoll gewesen ist, ist das nicht die Verrückte mit ihrem Sohn?
    Mama, flüstere ich. Sie schaut beim Singen zu mir herunter. Ich habe mich klein gemacht neben ihr auf der Bank. Warum muss sie so singen? Kann sie es nicht sein lassen, mir zuliebe?
    Du kannst nicht singen, flüstere ich. Du singst fürchterlich.
    Meine Mutter sieht mich an. Sie hört auf zu singen. Sie greift nach meiner Hand.
    Joni, flüstert sie. Aber ich will nicht, dass sie meine Hand nimmt. Sie soll meine Hand loslassen. Sie ist eine Frau, die nicht singen kann.
    Die Orgel hört auf zu spielen. Der Pastor tritt nach vorne vor den Altar. Er guckt durch seine Brille meine Mutter an.
     
    115
    Wir haben das Weihnachtsessen aufgegessen. Es gab Gans und Klöße und Rotkohl. Der Rotkohl war aus dem Glas und die Klöße aus der Packung. Zur Gans gab es eine braune Soße. Normalerweise trinkt meine Mutter zum Weihnachtsessen ein Glas Wein. Aber diesmal hat sie Saft getrunken, wegen der Tabletten.
    Danach haben wir die Geschenke geöffnet. Ich habe einen Globus, der leuchten kann, und ein Fahrrad geschenkt bekommen. Meine Mutter hat von mir einen selbst gemachten Kalender mit Fotos und gemalten Bildern gekriegt. Von meiner Oma habe ich ein Buch bekommen.
    Ich liege auf dem Sofa vor dem Fernseher.
    Es läuft Der kleine Lord , wie jedes Jahr. Der kleine Lord ist mein Lieblingsfilm an Weihnachten. Der kleine Lord musste seine Freunde in Amerika verlassen und zu seinem Opa nach England ziehen. Sein Vater ist tot und seine Mutter muss die Kleidung fremder Leute ausbessern. Der Opa ist ein Adliger und der kleine Lord bekommt einen Samtanzug und Schnallenschuhe, Schuhe mit goldenen Schnallen. Und die Mutter muss in einem Gasthof leben. Am Ende ist der Opa gar nicht böse. Meine Mutter liegt auf ihrem Sofa. Sie ist eingeschlafen. Sie schnarcht.
     
    116
    Was hast du dir gekauft?, fragt Dirk.
    Einen Schinken D-Böller, sage ich. Ich zeige Dirk eine von den Packungen, die ich in der Tasche trage.
    Geil, sagt er.
    Und du?, frage ich.
    Ich habe zwei Schinken A-Böller und tausend Piepmanscher. Er guckt die D-Böller an, die ich wieder in meiner Jacke verstaue. D-Böller durfte ich nicht. Du bist viel besser ausgerüstet.
    Bei mir war meine Mutter mit, sage ich. Meine Mutter hat die Böller gekauft. Sie kauft mir alles, was ich will. Ich kann alles haben.
    Dirk guckt neidisch. D-Böller sind die dicksten Böller. Er ist neidisch auf die D-Böller und auf meine Mutter.
    Wir stehen unter einer Laterne. Es ist schon dunkel, es ist sechs Uhr abends. Wir sind auf dem Schulgelände beim Hügel. Wir wollen Krieg spielen. Früher war der Hügel ein Amphitheater. Das ist ein Hügel im Halbkreis, wo die Leute im Freien sitzen. Jetzt aber ist es nur noch Hügel mit Rasen darauf. Wenn Schnee liegt, kann man sich eine Eisbahn bauen und mit Plastiktüten herunterrutschen. Im Sommer spielt man Kuss oder Arschtritt. Jetzt wollen wir Krieg spielen.
    Welche Seite?, frage ich.
    Drüben. Dirk zeigt auf die andere Seite des Hügels.
    Okay, sage ich. Hast du Feuerzeuge?
    Ich liege im Dunkeln auf meiner Seite des Hügels. Ich bin nicht sicher, ob Dirk mich sehen kann. Ich schaue den Himmel an. Der Himmel über der Stadt ist orange. Das kommt, weil Wolken am Himmel sind. Ab und zu sieht man eine Rakete im Himmel, obwohl noch nicht Silvester ist. Es knallt überall um uns herum. Es klingt wirklich wie Krieg, wenn man die Augen zumacht. Wie ich mir Krieg vorstelle. Überall sind schon die Kinder auf der Straße und knallen, obwohl noch nicht geknallt werden darf.
    Ich hole eine Packung D-Böller aus meiner Jacke. Ich breche das Papier auf. Ich mag den Geruch von Böllern. Es ist das Schwarzpulver, das so riecht. Ich zünde die Lunte eines D-Böllers mit dem Feuerzeug an. Ich weiß nicht, wo der Feind ist. Vielleicht ist er schon dabei, sich auf meine Seite zu schleichen. Egal, denke ich. Ich schmeiße den Böller mit der Funken sprühenden Lunte ins Dunkel.
     
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    Ich schließe die Haustür auf. Meine Mutter sitzt in der Küche und schneidet Zwiebeln. Es riecht nach Zwiebel im Haus. Ich weiß, dass es Kartoffelsalat zum Mittag gibt. Jedes Silvester gibt es Kartoffelsalat zum
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