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Goldener Reiter: Roman (German Edition)

Goldener Reiter: Roman (German Edition)

Titel: Goldener Reiter: Roman (German Edition)
Autoren: Michael Weins
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Mittag. Kartoffelsalat, wie meine Mutter ihn macht. Ohne Mayonnaise, dafür mit Essig und Öl. Zum Kartoffelsalat gibt es Würstchen aus dem Glas. Es gehört zu Silvester wie bunte Hüte und Luftschlangen. Man kann den ganzen Tag Kartoffelsalat essen, immer, wenn wieder etwas hineinpasst. Und abends essen wir Berliner.
    Ich bin zurück, sage ich. Ich lege die Tüte mit den Berlinern auf die Arbeitsfläche. Ich habe René und Dirk getroffen. René und Dirk haben auf dem Parkplatz vom Spar-Markt geböllert.
    Willst du mir helfen?, fragt meine Mutter. Du kannst Zwiebeln schneiden, dann kann ich die Kartoffeln abgießen.
    Ich setze mich auf den Platz meiner Mutter. Ich schneide Zwiebeln. Ich schneide sie zu kleinen Würfeln. Auf einem Holzbrett schneide ich. Ich schneide sie so klein es geht. Ich schaue das Zwiebelmesser an. Es hat einen Griff aus schwarzem Plastik. Meine Mutter gießt die Kartoffeln ab.
    Wir sitzen am Tisch und pellen Kartoffeln. Die Kartoffeln sind heiß. Meine Finger riechen nach Zwiebel. Meine Mutter pikt mit einer Gabel in die Kartoffeln. Sie zieht die Schale mit dem Messer ab.
     
    118
    Wir sitzen am Tisch. Vor uns stehen eine Schüssel Wasser und eine Kerze. Der Fernseher läuft, damit wir mitbekommen, wann das neue Jahr beginnt. Tony Marschall singt Sieben Fässer Wein . Wir halten unsere Löffel in die Kerze. Der Löffel wird schwarz von unten. Die Kerzenflamme rußt. Schwarzer Rauch steigt an die Decke. Man muss den Löffel so lange in die Flamme halten, bis das Blei flüssig wird. Mein Blei hat die Form eines Schweines. Schwein ist mein chinesisches Sternzeichen. Meine Mutter hat ein Kleeblatt auf dem Löffel, obwohl das kein Sternzeichen ist. Es gibt Applaus im Fernsehen. Dieter Thomas Heck zieht eine Karte aus einer Lostrommel. Ich kann nicht erkennen, was er mit der Karte macht. Ich schaue unsere Löffel an. Das Kleeblatt von meiner Mutter verliert die Form. Bei meinem Schwein tut sich nichts. Das Kleeblatt löst sich auf, es füllt den Löffel.
    Willst du dir für das neue Jahr etwas vornehmen?, frage ich.
    Ja, sagt meine Mutter. Ich glaube schon.
    Sie schaut ihr flüssiges Kleeblatt an.
    Aber manchmal hilft es nichts, wenn man sich etwas ganz besonders fest vornimmt. Manche Dinge passieren, auch wenn man sich wünscht, sie wären niemals passiert.
    Sie sieht mich an. Ein See aus Blei schwappt in ihrem Löffel, ein Silbersee.
    Es zischt. Es dampft. Sie hat das Blei in die Schüssel gekippt. Sie hält den Löffel ins Wasser.
    Kannst du erkennen, was es ist?, frage ich.
    Nein, sagt sie.
    Sie holt es aus der Schüssel. Es liegt auf ihrer Handfläche, ein längliches Etwas mit einer Ausbeulung an einem Ende und zwei Armen am anderen.
    Weißt du, was es ist?, fragt sie.
    Ja, sage ich. Es ist eine Mischung aus einem Anker und einer Schildkröte. Es ist eine Ankerschildkröte.
    Meine Mutter schaut sich ihre Ankerschildkröte an. Ich schaue mein Schwein an. Es schmilzt nicht.
    Und was bedeutet das für meine Zukunft, dass ich eine Mischung aus einem Anker und einer Schildkröte gegossen habe?, fragt sie.
    Keine Ahnung, sage ich. Das musst du doch wissen.
    Stimmt, sagt sie.
     
    119
    Sie hat das Fenster auf kipp gestellt. Vor dem Fenster auf der Straße wird geknallt. Ich schaue mir eine Frau an, die kleinen Hunden Schleifen ins Fell gebunden hat und sie durch einen Reifen springen lässt.
    Es ist gleich so weit, sage ich. Meine Mutter stellt ihr Glas auf der Platte vom Glastisch ab. Sie geht zum Esstisch hinüber. Sie schiebt einen Stuhl so zurecht, dass wir auf die Tischplatte steigen können.
    Komm, sagt sie.
    Sie will, dass ich mit ihr auf den Tisch steige. Es ist gleich zwölf und um zwölf springen wir vom Tisch ins neue Jahr.
    Ich frage mich, ob andere Familien das auch machen. Mir hat noch nie jemand erzählt, dass er an Silvester vom Tisch springt, niemand. Wir springen vom Tisch, seit ich mich erinnern kann. Vielleicht ist es noch so eine Ochsenzoll-Geschichte.
    Komm, sagt sie. Sie hält mir die Hand hin.
    Wir stehen auf der Tischplatte, meine Mutter und ich. Der Tisch wackelt, ich bin bald zu groß für diesen Tisch. Ich schaue mich im Wohnzimmer um, ich sehe den Schrank an, ich sehe die Lampe an, die von der Decke hängt, eine Glühbirne müsste ausgewechselt werden. Meine Mutter steht neben mir, sie hat die Augen geschlossen. Ich könnte die Wohnzimmerdecke berühren, aber ich halte ihre Hand.
    Ich stehe auf dem Tisch. Ich weiß, dass ich einen Schritt nach vorn machen muss. Ich muss
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