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Goldener Reiter: Roman (German Edition)

Goldener Reiter: Roman (German Edition)

Titel: Goldener Reiter: Roman (German Edition)
Autoren: Michael Weins
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das sieht man. Auf dem Geschenkpapier sind kleine Weihnachtsmänner abgebildet. Er hält mir das Geschenk hin.
    Ich habe aber kein Geschenk für dich, sage ich.
    Ich sehe das Geschenk an, das Mark zwischen uns hält. Nimm, sagt er.
    Ich nehme ihm das Geschenk ab. Es ist ganz leicht. Es ist so groß wie ein Buch, aber es ist zu leicht.
    Meine Mutter hat gesagt, ich soll dir etwas schenken, sagt Mark.
    Soll ich es jetzt aufmachen oder warten?, frage ich.
    Wie du willst, sagt er. Ich schüttele den Karton. Es rappelt.
    Hm, mache ich. Ich mache es jetzt auf, okay?
    Mark sagt nichts. Er hat die Plastiktüte zwischen seinen Händen zusammengeknüllt und schaut zu, wie ich das Geschenkpapier aufmache. Geschenkpapier mache ich immer sehr sorgfältig auf. Ich weiß nicht, warum, ich will es gar nicht noch einmal benutzen, schon gar nicht Papier mit kleinen Weihnachtsmännern darauf.
    Es ist ein Modellflugzeug. Mark hat mir ein Modellflugzeug zum Selberbauen geschenkt, eine Concorde. Weil ich einmal gesagt habe, dass die Concorde ein gutes Flugzeug ist und ich sie schön finde. Die Concorde ist das schnellste und sicherste Passagierflugzeug.
    Ich mag keine Modellflugzeuge. Mark mag Modellflugzeuge. Ich habe noch nie ein Modell zusammengebaut. Ich kann das nicht, Modellflugzeuge zusammenbauen. Dazu braucht man einen Vater.
    Danke, sage ich.
    Mark sagt nichts, sondern sieht sein Plastiktütenknäuel an.
    Wir können es ja zusammen zusammenbauen, ja?, sage ich.
    Sie, sagt Mark, die Concorde.
    Sie, sage ich.
    Okay, sagt Mark.
    Nach Weihnachten oder Neujahr, sage ich.
    Wir sitzen eine Weile so da. Ich schaue die Abbildung von der Concorde auf der Packung an. Die Concorde ist ein schönes Flugzeug. Mark schaut sich die Dinge an, die auf meinem Schreibtisch herumliegen. Sein Blick wandert durch mein Zimmer. Er schaut auf die Tiere auf meinem Teppichboden, die ich ausgeschnitten habe. Unten macht meine Mutter den Staubsauger an.
     
    114
    Hast du deine Tabletten genommen?, frage ich. Meine Mutter zieht ihren Mantel an, sie hält in der Bewegung inne, halb im Mantel, halb noch nicht. Sie schaut mich an. Sie überlegt. Sie hat ihre Tabletten genommen, ich weiß es. Sie nimmt immer ihre Tabletten. Ich weiß nicht, warum ich gefragt habe.
    Ich glaube schon, sagt meine Mutter.
    Schau nochmal nach, sage ich.
    Meine Mutter geht noch einmal in die Küche und klappt die Tür des Hängeschranks auf.
    Die Kirchenglocken läuten.
    An Weihnachten gehen alle in die Kirche. Normalerweise gehen nur die alten Frauen, aber heute ist die Straße voller Leute, die zur Kirche wollen. Meine Mutter zieht die Haustür hinter sich zu. Sie schließt zweimal ab. Guten Tag, nickt sie den Nachbarn zu. Guten Tag. Frohe Weihnachten.
    Bis eben habe ich vor dem Fernseher gesessen und auf das Christkind gewartet. So heißt das Programm im Fernsehen, Wir warten aufs Christkind . Ich habe mir Charlie Braun angeguckt und etwas mit Handpuppen, für die ich zu alt bin. Im Zweiten Programm gab es Weihnachtsmusik aus einer Kirche. Ich habe auf dem Sofa gesessen und aus dem Fenster gestarrt. Ich habe auf Schnee gewartet.
    Meine Mutter versucht, meine Hand zu nehmen. Sie greift meine Hand beim Gehen. Alle Familien machen das so an Weihnachten. Die Kinder an den Händen von den Eltern. Sie schaut mich von der Seite an, aber ich lese die Werbung an der Bushaltestelle.
    Wir sitzen in der Kirche, meine Mutter und ich. Die Kirche ist voll. Ich bin lange schon nicht mehr in der Kirche gewesen. Wir sitzen weit hinten. Jemand tippt mir auf die Schulter.
    Wir sitzen dahinten, sagt René. Er zeigt auf eine Bank auf der anderen Seite noch weiter hinten. Er gibt meiner Mutter die Hand.
    Aha, sage ich. Ich winke den Müllers zu. Renés Bruder ist nicht dabei.
    Frohe Weihnachten, sagt René.
    Ich sehe Mark weiter vorne sitzen, neben seiner Mutter. Dirk und seine Familie kann ich nicht erkennen. Nicole ist nicht da. Ich schaue zur Decke der Kirche hoch. Wenn man zur Decke hochschaut, hat man das Gefühl, dass oben Hunderte von Stimmen umherschwirren. Die Orgel fängt an zu spielen. Ich klappe das Gesangbuch auf, das wir am Eingang bekommen haben. An der Seitenwand der Kirche hängt eine Tafel, auf der steht, welche Seite man aufschlagen muss. Die Orgel spielt Lied 136. Meine Mutter fängt an zu singen. Alle Leute singen. Meine Mutter kann nicht singen. Früher hat sie in einem Chor mitgemacht. Deshalb denkt sie, dass sie singen kann. Aber sie kann nicht singen. Meine Mutter sitzt direkt
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